Suchen und Gefundenwerden (Morgenandacht im DLF am 5.11.2020)

Quelle: Katholische Hörfunkarbeit

In meinem Leben gibt es ein paar große Freundschaften, die bis heute halten. Manchmal denke ich an deren Beginn zurück. Vor ein paar Jahren hätte ich gesagt: Ich habe damals eine Freundin oder einen Freund gefunden. Doch in letzter Zeit tritt eine andere Erinnerung in den Vordergrund. Nämlich die, nicht nur einen Freund gefunden zu haben, sondern von einem Freund gefunden worden zu sein. Da war jemand, der mich erkannt hat. Jemand, der sah, was nur wenige sehen, und sich daran freut. Jemand, dem ich nichts vormachen kann noch will.

Am Anfang des Christentums steht eine Geschichte vom Suchen und Finden Gottes und vom Gesucht- und Gefundenwerden des Menschen. In Galiläa, einer scheinbar unbedeutenden Gegend im nördlichen Israel, begegnen die Leute einem Jesus aus Nazareth. Einem Menschen, von dem sie sagen: Das ist der, auf den das Volk Israel und die Welt Jahrtausende gewartet hat. Das ist der, der uns sagt und zeigt, wer und wie Gott ist. In diesem Menschen ist Gott für uns da.

Entsprechend bahnbrechend ist der Satz, der von einem zum anderen geht: „Wir haben den Messias, den Auserwählten Gottes gefunden!“

Ich mag besonders die Erzählung von einem gewissen Nathanael, den diese Nachricht nicht gleich vom Hocker haut. Er hört „aus Nazareth“. Und weil Nazareth ein unbedeutendes Kaff war, kommentiert er trocken: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ (Joh 1,46) Ein Freund überredet ihn mitzukommen. Er geht mit und als er Jesus begegnet, ruft dieser aus: „Sieh, ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist.“ „Woher kennst du mich?“, fragt Nathanael und Jesus antwortet: „Schon bevor man dich rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen.“

Diese Erfahrung zieht sich durch das ganze Neue Testament: dass Menschen meinen, sie hätten Gott gefunden und dann stellen sie fest, dass es Gott war, der sie bereits gesucht und gefunden hat. Jesus selbst beschreibt das als das Grundprogramm seines Lebens. Er sei „gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“.

Nun ist das aber mit dem Gefundenwerden so eine Sache.

Es kann sein, dass sich jemand schwer damit tut, wirklich gefunden zu werden. Es gibt Aspekte an meinem Leben, von denen ich vielleicht gar nicht möchte, dass die gefunden werden. Manche Menschen tun viel dafür, dass sie gar nicht gefunden, oder nur teilweise gefunden oder nur „gut“ gefunden werden. Wir müssen zu einem Menschen schon sehr viel Vertrauen haben, damit er uns ganz finden darf.

Und es kann sein, dass jemand sich schwer damit tut, dass Gott durch Jesus auch die sucht, die es scheinbar nicht verdient haben. Mehrmals erzählt die Bibel, dass sich gläubige Menschen darüber empören, dass Jesus ausgerechnet mit denen zu Tisch sitzt, die sie erpresst, übers Ohr gehauen oder ein anderes Unrecht begangen haben.

Ich möchte lernen, mich von Gott und suchen und finden zu lassen. Von Gott und von den Freunden Gottes, durch die er mir nahe ist. Nicht nur von außen. Nicht nur mit dem, was ich gerne von mir preisgebe. Ich möchte mich finden lassen, wo ich mich verrannt habe, wo ich mich schäme, wo ich einsam geworden bin mit dem, was keiner sehen soll. Denn alles, was gefunden wird, kann auch geheilt und erneuert und vergeben werden.

Und ich möchte lernen, mich darüber zu freuen, dass Gott auch die sucht und findet, mit denen ich eigentlich schon nichts mehr zu tun haben möchte – jene also, die ich schon verloren gegeben habe. Denn Gott gibt keinen verloren – auch nicht die, die mir Böses getan haben und an mir schuldig geworden sind.

Manchmal ist es schon da, das Vertrauen, dass mein ganzes Leben ans Licht kommen und gefunden werden darf. Und manchmal ist sie schon da, die Freude, dass Gott auch die sucht und findet, mit denen ich mich noch schwer tue.

Mit ihnen zusammen will ich mich finden lassen. Das wird unsere gemeinsame Freude sein – und der Neuanfang der Freundschaft mit Gott.