Seit einigen Jahren wird ein wöchentlicher „Veggie-Day“ diskutiert. Aus gesundheitlichen und ökologischen Gründen sei es ratsam, so der Vorschlag, zumindest an einigen Tagen auf Fleisch zu verzichten. „Donnerstag ist Veggie-Day“ lautet ein Slogan dazu. In der katholischen und orthodoxen Tradition ist ein solcher „Veggie-Day“ seit langem üblich. Nicht nur aus Gründen der Gesundheit, sondern vor allem als Ausdruck der Gottesbeziehung; und auch nicht am Donnerstag, sondern am Freitag.
Denn an jedem Freitag denkt die Kirche an das Leiden und Sterben Jesu von Nazareth. Die Abstinenz von fleischlicher Nahrung soll die Christen achtsamer dafür machen, dass Gott als ein Mensch den Weg unserer Entbehrungen und unseres Leidens mitgeht – bis an ein Ziel, an dem alle Entbehrung und alles Leid ein Ende findet.
Für mich ist eine der bewegendsten Darstellungen Jesu Christi am Kreuz die des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald aus dem 16. Jahrhundert. Lange hat man darüber gerätselt, was für Verletzungen man dort am Gekreuzigten sieht. Diese ähnelten nämlich nicht wirklich den Verletzungen einer Geißelung, wie sie im Evangelium beschrieben wird. Erst mithilfe von Medizinern kam man darauf, dass die Verfärbungen und Flecken auf der Haut des Gekreuzigten die Symptome einer Mutterkornvergiftung zeigen.
Ursprünglich stand der Altar in der Kirche des Spitals des Antoniterklosters in Isenheim. Viele der dort behandelten Kranken litten an der Mutterkornvergiftung. Wenn sie auf das Altarbild schauten, sahen sie den gekreuzigten Jesus mit den gleichen Symptomen ihrer eigenen Krankheit. Sie sahen Gott in der Gestalt eines Menschen, der war wie sie. Sie sahen Jesus Christus als einen der Ihren.
Schon im Alten Testament der Bibel finden wir die Vorstellung, dass Gott einen Menschen sendet, der sich mit uns Menschen identifiziert bis in unsere Krankheiten und Leiden hinein. 700 Jahre vor Christus sagt der Prophet Jesaja über diesen sogenannten „Gottesknecht“: „Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“ (Jes 53,4). Christen glauben, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth das Leiden und Sterben eines jeden Menschen in der Welt zu seinem macht – bis heute.
Am Karfreitag dieses Jahres habe ich mich gefragt: Wie müsste heute eine entsprechende Darstellung des Gekreuzigten aussehen, der die Wundmale der Pandemie trägt? Und ein Zeichen gibt es wirklich, das mich an diese Krankheit erinnert. COVID-19 trägt den Namen „Corona“ aufgrund der Kranzform des Virus. „Corona“ ist das lateinische Wort für „Kranz“ oder „Krone“.
Die Bibel erzählt, dass Jesus von den Soldaten eine „corona spinea“ aufgesetzt wird, eine Dornenkrone (Joh 19,5). Der Gefolterte soll damit zur Witzfigur gemacht werden, zu der Karikatur eines Königs. Ohne es zu bemerken, sagt Pontius Pilatus dabei über Jesus ein prophetisches Wort: „Ecce homo – Seht der Mensch“. Dieses Wort ist auch vom Menschen schlechthin gesagt: Seht – So steht es um Euch. So geht ihr miteinander und Euch selbst um. So steht es um Eure Souveränität. Feine Könige seid Ihr!
Heute ist es der Virus mit dem Namen Corona, der mit unserer Souveränität, unserer Selbstsicherheit, unserem Glauben, alles in der Hand zu haben, seinen Spott treibt.
An jedem Freitag gedenken gläubige Christen der Kreuzigung Jesu. Wenn ich heute eine Kreuzesdarstellung sehe, stelle ich mir den Dornengekrönten vor: Er trägt meine und unsere Krankheiten bis vor den Thron Gottes. Bis zu dem, von dem die königliche Würde eines jeden Menschen kommt. Und ich glaube ihm, was er den Menschen versprochen hat: dass er uns einmal die „corona vitae“, die „Krone des Lebens“ schenken wird (Offb 2,10).