Johannes der Täufer stirbt in einer Auseinandersetzung. In der geht es um Liebe und Treue, um Leidenschaft und Glück, um Sex und um Macht, um deren Gebrauch und Missbrauch.
Auch wenn König Herodes ein unsympathischer Zeitgenosse ist – um Johannes den Täufer zu verstehen, hilft es mir, mich in den Tyrannen hineinzuversetzen und nach dem zu fragen, worin ich ihm eben doch ähnlich bin.
Die Auseinandersetzung mit Johannes dem Täufer geht um eine scheinbar sehr private Frage. „Denn Johannes hatte zu Herodes gesagt: Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zur Frau zu haben.“ (Mk 6,18) Die Frau verzieh dem Täufer diese Intervention nicht. Eine Reaktion ihres Mannes ist nicht überliefert. Herodes mag erwidert haben: „Was geht das Dich an?“ Er hätte sich vermutlich auch dem Slogan angeschlossen: „Love is no sin!“ („Liebe ist keine Sünde!“), der jetzt oft zitiert wird, um gegen Diskriminierung zu protestieren.
Letzteres ist ein gutes Anliegen. Aber stimmt der Spruch? Wer die menschlichen Abgründe der Liebe kennt, dem kommt dieser Satz nicht über die Lippen. Menschen tun aus Liebe schreckliche Dinge: Sie brechen aus Liebe in eine Ehe ein. Sie nehmen aus Liebe Kindern ein Elternteil. Sie lassen aus Liebe unheilbar kranke oder noch nicht geborene Familienmitglieder töten. Und wie viele von Euch sind schon aus Liebe verraten, verlassen und im Stich gelassen worden? Love is no sin, sagt der König Herodes. Sin is no love, antwortet der Täufer Johannes.
Liebe kann etwas Heiliges und Großes oder etwas Verderbliches und Tödliches sein – für den Liebenden oder den Geliebten. Es kommt darauf an, worum es ihr geht. In Dantes Göttlicher Komödie (1321) heißt es, dass die Sünde fehlgeleitete Liebe sei.
Herodes weiß das eigentlich. Die für Johannes tödliche Auseinandersetzung ist nicht bloß eine Auseinandersetzung zwischen Prophet und König. Es ist eine Auseinandersetzung in der Person des Herodes. Der Evangelist schreibt, dass Herodes den Johannes fürchtete und ihm zugleich gerne zuhörte (Mk 6,20). Furcht und Sympathie. Es muss in Herodes im Ringen zwischen Verstand und Unterleib, zwischen Liebe und Trieb einen Rest von Affinität zum Guten und von Sehnsucht nach Gottes Wort und Willen gegeben haben.
Herodes weiß offenbar, dass es gute Gefühle gibt, die schlecht sind, und schlechte Gefühle, die gut sind. Rache kann ein befriedigendes Gefühl sein, das jedoch schlecht ist. Das fast leibliche Rumoren über eine Lüge wiederum ist äußerst unangenehm. Aber zugleich ist es ein Zeichen eines gut funktionierenden Gewissens.
Dann tanzt die Tochter seiner Mätresse, und Herodes verspricht ihr alles – bis zur Hälfte seines Reiches. Das Mädchen will den Kopf des Täufers und etwas Fremdes in Herodes obsiegt: „Weil er vor allen Leuten einen Schwur getan hatte“, lässt Herodes Johannes enthaupten. Die Haute volée Jerusalems ist versammelt. Vor dem Establishment des Volkes Israels steht sein Ruf und sein Ansehen auf dem Spiel. Aber Herodes will sein Gesicht nicht verlieren – auch wenn es ein falsches Gesicht war.
Das gibt es bis heute im Volk Gottes, und zwar in allen Lagern: dass wir unser Ansehen bei der Mehrheit nicht verlieren wollen und dass wir dafür alles zu tun bereit sind. Lieber es stirbt die Wahrheit als unser guter Ruf. Lieber stirbt die Stimme des Gewissens im Kellerverlies unserer Seele, als die Zustimmung im Volk. Die Partei hat immer recht.
Herodes hätte lieber sein falsches Gesicht vor den Leuten verloren als die wahre Stimme in seinem Herzen. Besser seinen Ruf in der Jerusalemer Society als den Anruf aus dem Kerker seiner Seele, der ihn an die Wahrheit Gottes erinnert.
Wir könnten sagen: Wie Herodes lebt, geht uns nichts an. Wir könnten sagen: An solchen Fragen hängt nicht die Zukunft des Volkes Gottes. Aber kann es wirklich sein, dass Johannes der Täufer nur für eine Privat- und Nebensache gestorben ist?
Fra‘ Georg Lengerke