Heuschrecken und Wilder Honig Teil 7 SEHT! Joh 1,29 und 36

Ein Wort des Täufers über Jesus wird wohl am häufigsten dargestellt und zitiert: „Ecce Agnus Dei“– „Seht das Lamm Gottes“. Zweimal weist Johannes mit diesem Wort auf den vorübergehenden Jesus hin (Joh 1,29 und 1,36).

Für die frommen Juden war das ein Schlüsselwort. Johannes identifiziert Jesus von Nazareth mit jenem Lamm, das am Paschafest vor dem Auszug aus Ägypten geschlachtet wurde. Jesus erfüllt, wofür das Pascha-Lamm in Ägypten bereits ein Vorzeichen war: dass wir nicht nur aus politischer Sklaverei, sondern aus der Herrschaft der Gottesfremde (Sünde) und des Todes befreit werden. Er ist „wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt“, sagt Jesaja über den Gottesknecht (Jes 53,7). „Seht hin!“, sagt Johannes der Täufer, weist auf Jesus und zugleich über den Moment hinaus. Seine Jünger folgen Jesus und sehen, wer das Lamm Gottes ist, dem Johannes vorausging und in dem Gott sich als ein Mensch den Menschen zeigt.

Wie ein Echo auf die Lebensbotschaft des Täufers Johannes und wie eine Auslegung seines Rufes kommt das lateinische „Ecce!“ drei Mal in der Karfreitagsliturgie vor.

1. „Ecce Homo!“ – „Seht, der Mensch!“ (Joh 19,5) ruft der römische Statthalter Pontius Pilatus angesichts des zerschlagenen und als Witzkönig verspotteten Jesus. Und er sagt damit mehr als er will: „Da, der Mensch! So ist der Mensch. So seid Ihr und so geht Ihr miteinander um!“ Jesus zeigt uns den Menschen, der an den anderen, an sich selbst, an der gefallenen Schöpfung leidet. Er zeigt uns den von Gott gewürdigten und von Menschen entwürdigten Menschen, von dessen Königswürde nur noch eine Spottverkleidung übrig geblieben ist. Und er zeigt uns den Menschen in der Sünde, den verfluchten und von Gott getrennten Menschen. Und die Antwort der Masse lässt nicht auf sich warten: Er muss weg! „Ans Kreuz mit ihm!“

2. „Ecce servus meus“ – „Seht, mein Knecht“, beginnt die erste Lesung vom Karfreitag, das Vierte Lied vom Gottesknecht (Jes 52,13-53,12), in dem der Prophet Jesaja 400 v. Chr. das Schicksal des Gottesknechtes beschreibt. Die Christen haben darin eine Vorausschau des Schicksals Jesu gesehen, der von den Menschen gequält, entstellt und ermordet wird. Er verbindet sich in seinem Leiden mit der Krankheit, dem Schmerz und der Schuld der Welt und gibt sich dafür her, sie sich mit allen Folgen antun zu lassen, um sie zu Gott zu tragen. Ihn lässt Gott nicht im Tod, sondern rettet ihn – und damit auch alle, die ihrerseits zugelassen haben, dass er sich ihr Leiden, ihren Schmerz und ihre Schuld zu eigen macht.

3. „Ecce lignum crucis!“ – „Seht, das Holz des Kreuzes!“ Nach dem Ecce homo und dem Ecce servus meus enthüllt die Kirche in der Karfreitagsliturgie das Kreuz, um das Hinsehen neu zu lernen. Dreimal ruft sie: „Ecce lignum crucis – Seht das Holz des Kreuzes, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt. Kommt, lasset uns anbeten!“ Das Kreuz ist der Ort der Verlorenheit des Menschen, bis zu dem die Suche Gottes nach dem Verlorenen geht. Hier ist der Ort, an dem Christus, „das Heil der Welt“, das Verlorene findet und rettet, indem er selbst zum Verlorenen wird, sich mit den Leidenden und Verlorenen aller Zeiten und Orte verbindet und so die Verlorenheit des Menschen zu seinem Ort, zu seiner Stelle macht.

Hier ist schließlich die Stelle, an der der Vater den Sohn und die mit ihm Verbundenen nicht in der Verlorenheit lässt. Er weckt sie auf in das Leben der Gefundenen, in das Leben der mit ihm Suchenden, in das Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat.

„Seht das Lamm Gottes!“, sagt Johannes der Täufer. Deshalb bitte ich an diesen heiligen Tagen um einen verstehenden und liebenden Blick von Herz und Verstand, von Seele und Leib, damit ich Jesus immer mehr sehen lerne – in Seiner Hingabe, in meinem Nächsten und an jedem Ort, an dem er unsere Verlorenheit zu seiner macht.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie