Wer Du bist und wir sind Joh 10,11-18

Bis Mittwoch war ich in Quarantäne für Reiserückkehrer. Das ist noch mühsamer als eh schon. Und mehr als eh schon fällt mir auf, wie sehr ich mich von dem her definiere, was ich tun oder nicht tun kann.

Vielleicht beschäftigt mich ja deshalb auch die Frage an Jesus vom Dienstag so: „Was tust du, damit wir es sehen und Dir glauben?“ (Joh 6,30) Denn auf die Frage der Leute nach dem, was er tut, antwortet Jesus mit dem, was er ist: „das Brot des Lebens“ (Joh 6,35), „das vom Himmel gekommen ist“ (Joh 6,41).

Für den Menschen, der seine Lebensmittel zur Lebensmitte macht, macht Gott, der die Lebensmitte ist, sich zum Lebensmittel. Wir dürfen schon hier von dem leben, durch den unser Leben lebendig wird.

Vor dem Tun kommt das Sein. Am deutlichsten ist das am Anfang und am Ende des Lebens. Auch im Glauben geht es nicht zuerst darum, was wir tun, sondern darum, wer wir sind: Wer ist Jesus Christus für mich? Wer bin ich für Ihn? Wer sind wir mit Ihm füreinander?

Was, wenn wir einander danach mehr fragten und einander davon mehr erzählten? Die Lesungen von diesem Sonntag sind voll davon, wer wir füreinander sind:

Du bist mir
– als entbehrlich verworfen –
zum Fundament geworden.
Du bist die Ansprechbarkeit Gottes.
Du bist die Adresse der Rettung.
Du bist der Hüter und Führer.
Du bist der
unverdient Gesandte
und der unbezahlt Gegebene
– bis an meine Stelle
und in mein Los.

Ich heiße Kind
und bin Kind,
von Dir her,
und zu Dir hin.
Unerkannt von den Anderen,
ganz erkannt von Dir.
Dir vertraut
und anvertraut.
Und mit Dir Gabe
für die anderen Begabten.

Ich bin
aus Deiner Unähnlichkeit
in Deine Ähnlichkeit
geliebt.
Du angesichts meiner
– wie ich bin.
Und ich angesichts Deiner
– wie Du bist.

Amen.
Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Wunden-Ausweis Lk 24,35-48

Bis in die 80ger Jahre hinein stand in deutschen Reisepässen ein Angabenfeld „Besondere Kennzeichen“. „Blinddarmnarbe“ hätte da stehen können. Das Feld war bei mir aber leer.

Weil die Jünger den Auferstandenen nicht erkennen, weist er sich aus. Sein Ausweis sind „besondere Kennzeichen“: die Wundmale an Händen und Füßen.

Es sind Wunden, nicht Narben, die die Jünger sehen. Die Goldene Legende (Legenda Aurea, 13. Jh) berichtet, wie sich dem Hl. Martin von Tours eine herrliche Gestalt als der auferstandene Christus ausgibt. Martin entlarvt den Betrug des Versuchers: „Ich werde nicht glauben, Christus sei gekommen, außer ich sehe ihn in der Gestalt, in der gelitten hat, und mit den Wundmalen seiner Kreuzigung.“

Was sagt uns der Ausweis der Wunden?

Die Wunden sagen: „Ich bin es!“ Ich bin derselbe, den Ihr gehört, dem Ihr geglaubt habt und dem Ihr nachgefolgt seid, der gegeißelt und gekreuzigt wurde, um den Ihr getrauert und den Ihr aufgegeben habt.

Die Wunden sagen: „So bin ich!“ Ich halte mein Wort, weil der Vater sein Wort hält. Ich lasse mich nicht herauswerfen aus der Welt oder aus Eurem Leben. Ich habe Eure Wunden zu meinen Wunden gemacht.

Die Wunden sagen: „So seid Ihr!“ Weil auch Ihr Wunden tragt. Und weil auch Ihr Wunden schlagt. Ich leide Eure Leiden – jene, die Ihr selbst tragt, und jene, die Ihr anderen zufügt.

Und die Wunden sagen: „So wird es sein!“ Alles wird einmal vor Gott kommen und dort geheilt, versöhnt und vollendet werden.

Nach Ostern habe ich im Libanon über diese Stelle gepredigt. Vor mir saß der zwölfjährige Toufic – den Kopf voller Wunden. Und ich dachte: Diese Heilung, Versöhnung und Vollendung beginnt schon da, wo wir die Wunden der Menschen berühren, die Jesus zu seinen gemacht hat.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Welcher Schein trügt Joh 20,19-31

Liebe Denker und Beter,

in den Bergen des Libanon ist das Internet nicht sehr belastbar. Daher eine Verzögerung. Der nächste BetDenkzettel erscheint spätestens am Sonntag, dem 18. April.

Center Al Fadi, Chabrouh, Lebanon.

Heute hat es geschneit. Der Hügel hinter dem Haus sieht aus wie die geheimnisvolle Ruine einer vergangenen Pracht.

Doch manchmal trügt der Schein. Gestern war da ein stinkender Müllhaufen. Aber wo der Schein nicht trügt, dort scheint die unsichtbare Wahrheit durch und leuchtet ein.

Thomas kennt beides. Als sie Jesus als siegreichen König feierten, trog der Schein. Als sie den Toten vom Kreuz nahmen, trog der Schein nicht.

Viele der behinderten Menschen hier im Haus haben Narben und Wunden. Durch Unfälle, Selbstverletzungen oder Misshandlungen. Einige heben ängstlich den Arm, um sich vor dem befürchteten Schlag zu schützen, wenn ich ihnen über die Wange streiche. Sie wissen nicht, dass der Schein trügt.

Auch das gehört zum Osterwunder: dass einer, den seine Allernächsten belogen, betrogen und im Stich lassen haben, einem anderen glaubt, dass er ihm gut ist.

Beide, Thomas und Jesus, fanden sich betrogen, belogen und im Stich gelassen. Beide sind verwundet: Jesus durch das, was man ihm antat; Thomas durch das ungläubige Empfinden, verlassen worden zu sein.

Doch der Schein trügt. Die Jünger sind nicht verlassen. Weil Jesus den Thomas die Wunden seines Sterbens berühren lässt, lässt Thomas Jesus die Wunde seines Unglaubens berühren.

Gregor der Große schreibt: „Der zweifelnde Jünger [sollte] die Wunden unseres Unglaubens heilen […], indem er die Wunden am Leibe seines Meisters berührte. […] Denn indem er durch die Berührung zum Glauben zurückgeführt wird, wird unser Herz im Glauben gefestigt und wirft allen Zweifel hinter sich.”

Thomas glaubt, denn der Schein der Wunden trügt nicht. Der Tod hat nicht das letzte Wort, denn der Schein seiner Macht trügt.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Ostern GrabesUnruhe Mk 16,3

Diese Woche habe ich die Teilnehmer eines Einkehrtages gefragt: „Was ist Ihr Osterthema?“ Mehrere antworteten: „Dass die Grabesruhe bald vorüber ist.“

„Grabesruhe“ heißt für manche, an so vielen wichtigen Lebensvollzügen gehindert zu sein, dass sie das Gefühl haben, lebendig begraben zu sein.

Aber Jesus wurde nicht lebendig sondern tot begraben. Es geht an Ostern um mehr als um eine Veränderung unserer Lebensumstände. Es geht um eine Veränderung unseres Umgangs mit unseren Lebensumständen. Je weniger Macht Krankheit und Tod in unserem Leben haben, um so freier sind wir auch in bestehender Einschränkung.

Die meisten wollen aus dem Grab der Einschränkungen heraus. Aber die Frauen wollen in das Grab Jesu hinein. Sie wollen den Leichnam berühren, ihm einen letzten Liebesdienst tun und sich dem Tod stellen.

„Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?“ (Mk 16,3b), fragen die Frauen. Sie fragen nach der Grenze zu dem Toten und rühren zugleich an die Grenze des Todes – und damit des menschlich Unüberwindlichen. Ostern beginnt, wo der Mensch nichts mehr tun kann.

Neulich sah ich auf einem Plakat das Zitat eines Klimaaktivisten: „Die größte Gefahr für unseren Planeten ist der Glaube, dass jemand anderes ihn retten wird.“

Bestenfalls meint er: Wir selbst sollen tun, was wir können, um die Schöpfung zu erhalten. Das ist wahr und wichtig. Aber können wir einander und die Schöpfung vor dem Tod oder aus dem Tod retten?

Schlimmstenfalls unterstellt er: Der Glaube an einen rettenden Gott dispensiert die Menschen vom Klimaschutz und ist daher die größte Gefahr für unseren Planeten. Und große Gefahren muss man minimieren oder beseitigen.

Die größte Gefahr für die, die den Planeten in Händen zu halten meinen, ist der Glaube, dass jemand anderes ihn retten wird.

Davon handelt Ostern. Ostern ist ein gefährliches Fest.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Karfreitag Consummatum est Joh 19,30

Vergangenen Samstag habe ich eine meiner Tanten beerdigt. Kurz nach ihrem Tod hat mir meine Schwester ein Bild von ihr gezeigt.

Ich habe schon viele Verstorbene gesehen. Oft sahen sie ein wenig blass aber sonst noch ganz proper aus. Man hätte denken können: Ja, wenn nur der Herzfehler nicht gewesen wäre…, oder: wenn nur das Virus nicht gewesen wäre…, oder: wenn nur die Ampel nicht rot gewesen wäre…, dann könnte dieser Mensch eigentlich noch leben.

Bei meiner Tante Annemarie war das anders. Ihr Bild hat mich verstört. Ich habe sie nicht gleich erkannt. Sie war buchstäblich nur noch Haut und Knochen. Sie sah aus, als wäre nichts mehr übrig, was noch hätte leben können.

Ich sah die Tante und musste an das letzte Wort Jesu im Johannesevangelium denken: „Es ist vollbracht!“. Genaugenommen fiel mir der lateinische Satz ein: „Consummatum est!“ Das ist mehr als bloß „beenden“, „abschließen“ oder „fertig werden“. Es heißt soviel wie „zusammenbringen“, „verzehren“, „vollenden“. Im griechischen Urtext steht da „tetelestai“ und das hat mit dem „Telos“, dem Ziel zu tun: Es bedeutet: „erfüllt“, „bezahlt“, „angekommen sein“.

Alles ist gegeben, alles angekommen, alles erfüllt. Das sagt Jesus am Ende seines Lebens. Und das sagt mir das Leben meiner Tante Annemarie: Alles ist gegeben. Nichts ist zurückgehalten.

Und nun steigt eine Frage in mir auf. Erst leise, dann lauter und bald brennend. Wenn Jesus alles und auch sich selbst gegeben hat (und mit ihm Menschen wie meine Tante Annemarie), was ist dann bei mir angekommen und von mir angenommen?

Und was will und kann, darf und soll ich geben, wenn ich am Ende mit Jesus möchte sagen können „Consummatum est!“

Das letzte Wort Jesu markiert nicht ein Ende. Es bezeichnet einen Anfang. Es schließt nicht ab, sondern auf.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie