Heute ist der letzte Tag im Jahr. Und viele Menschen hat das vergangene Jahr das Fürchten gelehrt.
„Fürchtet euch nicht!“ Mit diesem Wort des Engels beginnt im Lukasevangelium der Bibel die Weihnachtsbotschaft an die Hirten auf den Feldern bei Bethlehem. Wenn man mir als Kind sagte: Hab keine Angst!, dann hieß das meistens so was wie: Der Hund will nur spielen. Anders gesagt: Es gibt gar keinen Grund, sich zu fürchten.
Für viele Menschen gibt es aber Gründe zur Furcht: vor der Krankheit oder den Kranken, vor dem Fremdsein oder dem Fremden. Furcht vor Veränderungen des Klimas, vor Radikalisierung oder Terror. Furcht vor dem Scheitern im Beruf oder in der Ehe. Furcht vor der Spaltung der Familie, der Gesellschaft oder der Kirche – und in allem die Furcht vor Sterben und Tod.
Es sind Hirten, die als erstes von der Geburt Jesu erfahren. Einfache Menschen mit einem unverstellten Zugang zur Welt. Menschen, die noch wissen, dass die Welt geheimnisvoll ist. Nicht etwa deshalb, weil wir noch nicht alles rausgefunden haben. Sondern weil es Dinge gibt, die wir prinzipiell nicht rausfinden können. Sie bleiben uns unverfügbar. Sie müssen sich erst zeigen, wenn wir sie denn wahrnehmen sollen. Und sie können sich nur denen zeigen, die dafür bereit und offen sind und die nicht schon allzu genau zu wissen meinen, was es geben kann und was nicht. Deshalb sehen Kinder manchmal mehr als Erwachsene. Und deshalb wird jemand, der sich nicht lieben lassen will, nie wissen, was Liebe ist.
Ich stelle mir vor, dass die Hirten einen Blitz lang gesehen haben, was die Texte der Bibel die „Herrlichkeit Gottes“ und die alten Glaubensbekenntnisse der Kirche die „unsichtbare Welt“; die Engel und die „himmlischen Heerscharen“, jene Mächte und Gewalten, die im Gottesdienst der Kirche noch genannt, aber ansonsten außerhalb der Esoterik praktisch nicht mehr ernst genommen werden. Die Hirten sehen für einen Augenblick über unseren begrenzten Gesichtskreis hinaus. Sie schauen die himmlische Herrlichkeit, die uns nach dem Zeugnis der Bibel, der Mystik und der Lehre der Christen unsichtbar umgibt. Die ist schön und furchtbar zugleich, weil sie unendlich viel größer und mächtiger ist als alles, was unser eigenes Leben bedroht und gefährlich macht.
Deshalb kommt Gott als ein Kind. Die Weihnachtsbotschaft an die Hirten lautet nicht: Fürchtet Euch nicht, denn Gott ist harmlos! – Nein, die Botschaft von Weihnachten lautet: Fürchtet Euch nicht, denn Euer Retter kommt als „ein Kind, […] in Windeln gewickelt“! Warum? Damit Ihr Euch nicht auch vor ihm noch fürchtet – genauso wie ihr Euch vor den Mächten fürchtet, die Euer Leben bedrohen.
An Weihnachten geschieht ein Seitenwechsel. Gott wird in Jesus einer von uns. Gott kommt aus dem Jenseits ins Diesseits. Jenseits und diesseits von was? Wenn Menschen vom „Jenseits“ sprechen, dann meinen sie in der Regel den Tod oder das Leben nach dem Tod. Das macht Sinn. Aber Gott kommt nicht nur von jenseits des Todes zu uns. Er kommt auch von jenseits all dessen zu uns, was tödlich ist, was unser Leben eintrübt und bedrückt, uns mutlos, untröstlich oder schuldig werden lässt.
Mit der Geburt Christi beginnt eine neue Art der Gottesbeziehung. Gott ist nicht mehr nur ein jenseitiger Gott, von dem wir erwarten, dass er endlich abschafft, was uns diesseitig leiden macht. Sondern er ist der Gott, der als Mensch auf diese unsere Seite kommt, damit wir uns vor dem Furchtbaren nicht mehr fürchten, damit wir mit ihm verbunden und füreinander da sind und damit wir auf dem Weg zu unserem Ziel hin bestehen.
An Weihnachten Gott kommt als ein Mensch in die Welt, damit wir Menschen in seiner geliebten und gefährlichen Welt mutig werden – und uns nicht mehr fürchten als unbedingt nötig.
Fra‘ Georg Lengerke
Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 31.12.2021 als Morgenandacht im Deutschlandfunk gesendet.