Die offene Rechnung der Kirche Lk 6,27-38

Wenn jemand sagt, er habe mit einem anderen noch eine Rechnung offen, dann bedeutet das, dass einer dem anderen etwas schuldet. Dabei kann es sich um eine dingliche Schuld (zum Beispiel aus einem Geschäft) handeln, die zu bezahlen ist, oder um eine moralische Schuld (aus einem Vergehen oder Verbrechen), die bereut, gesühnt und wieder gut gemacht werden soll. Solange die Rechnung offen bleibt, stimmt etwas nicht. Die Gerechtigkeit fordert, dass die Rechnung beglichen wird. Und das tut sie nicht nur im Namen der Gläubiger und der Opfer, sondern im Namen einer sittlichen Ordnung, in der wir gut leben können.

Im Evangelium ist nun davon die Rede, dass die Jünger Jesu die Rechnung offenlassen sollen. Ihren Feinden sollen sie gut sein und die Fluchenden segnen. Für die Beleidiger sollen sie beten, ihren Schlägern die andere Wange hinhalten und dem Manteldieb auch noch das Hemd lassen. Kein Wunder, dass man die Christen anfangs für eine Gefahr für die sittliche Ordnung gehalten hat.

Aber sind sie das wirklich? Angenommen, eine ausgleichende Gerechtigkeit würde mit mathematischer Präzision durchgesetzt. Dann hätte keiner von uns eine Chance. Jeder bliebe Sklave seines Ungenügens und seiner unbeglichenen und unbegleichbaren Schuld. Jeder Mensch ist darauf angewiesen, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erbarmen, Vergebung.

Deshalb gehört zur Gerechtigkeit, sagt Jesus, dass ich die Menschen so behandele, wie ich behandelt werden will. Deshalb soll ich mir vorstellen, Gott würde mich einmal so behandeln, wie ich die Menschen behandelt habe. Und darauf, wie Gott mich behandeln wird – darauf möchte ich mich freuen können.

Daran muss ich denken, wenn es in dieser Zeit um den Umgang mit Schuld in der Kirche geht. Denn wo in der Kirche Erbarmen und Vergebung mit Verharmlosung und Vertuschung vertauscht wird, da wird die Gerechtigkeit nicht geöffnet, sondern zerstört – und mit ihr das Vertrauen, der Glaube und das Leben von Menschen.

Die Auseinandersetzung um die Kirche scheint mir heute der Ernstfall zu sein, in dem wir sogenannten „Vertreter der Kirche“ das Offenlassen der Rechnung üben sollen – und zwar da, wo nicht andere, sondern wir selbst Opfer sind. Dazu werden wir ironischerweise geradezu genötigt. Denn wo sich berechtigte und notwendige Anklagen gegen die Kirche und ihre Amtsträger mit ungerechten Beschuldigungen und Verleumdungen mischen, dort wird jede Verteidigung und jeder Versuch, Gerechtigkeit wieder herzustellen, als erneute Verharmlosung und als Fortsetzung und Steigerung all dessen wahrgenommen, was Verbrechen in der Kirche begünstigt hat.

Mir scheint, an dem Punkt will sich zu unserer Reue die Liebe gesellen. Das ist die Stunde, in der die leidende Liebe die Rechnung offenlässt.

Fra‘ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie