Unmöglich schweigen können – Predigt eines Dankbaren über die Dankbarkeit (Poreč/Istrien am 23. April 2022)

In der vergangenen Woche wurde in der Euphrasius-Basilika in Poreč (Istrien) der 50. Geburtstag zweier Verwandter gefeiert. Als die beiden 18 wurden, war ich bereits 22. Damals fand ich es irgendwie niedlich, wenn Jüngere vor Stolz über ihre Volljährigkeit kaum gehen konnten. Mein fünfzigster Geburtstag liegt heute auch schon ein paar Jahre zurück. Und die fünfzigjährigen Vettern sind nicht mehr bloß niedlich, sondern schon durch ganz schön viel durchgegangen. Mit 18 sagen wir: Jetzt geht es los. Mit 50 freuen wir uns, dass wir noch leben.

Die Predigt kann man als Podcast hören. In ihr geht es um die Dankbarkeit als christliche Perspektive auf die Welt. In dieser Perspektive gehört alles hinein in die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Dinge sind Gaben, Umstände sind Gegebenheiten und Menschen sind Geber, Begabte und Gegebene.

Froh sein kann man einfach über etwas. Dankbar ist man immer jemandem für etwas. Dankbarkeit ist Beziehungssache. Ich erinnere mich an jenes Gefühl der Dankbarkeit in meiner Jugend, das ich nicht recht deuten konnte, weil ich nicht wusste, wem eigentlich ich dankbar bin. Wenn mir heute jemand von seiner unadressierbaren Dankbarkeit erzählt, dann denke ich: Der, dem du dankbar bist, den nennen die Christen Gott.

In der Tageslesung vom letzten Samstag sagten die Apostel im Verhör vor dem Hohen Rat. „Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben.“ (Apostelgeschichte 4,20) Auch die Dankbarkeit hat eine missionarische Kraft. Sie handelt von dem, wovon wir unmöglich schweigen können.

Fra‘ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Wem glauben? Joh 20, 19–31

Die vergangene Tage verbringe ich mit einer großen Gruppe von Verwandten und Freunden anlässlich eines Geburtstagsfestes. Viele sprechen mich auf die Kirche an. Mehr als sonst sind verzagt, resigniert oder empört. Die einen über menschliches oder systemisches Versagen, andere entweder über die kirchliche Lehre oder über deren Infragestellung, wieder andere entweder über die Berichterstattung über die Kirche oder über das von ihr Berichtete.

Manchmal kann ich antworten, entgegnen, zustimmen; oft höre ich nur zu. Dreierlei kommt mir dabei in den Sinn.

1. Die Frage, wem wir glauben können, begleitet die Christen seit dem Tod und der Auferstehung Jesu. Die ersten Zeugen des leeren Grabes werden belächelt oder desavouiert. Thomas glaubt den Aposteln nicht. Jesus tadelt auch deren „Unglauben und ihre Verstocktheit, weil sie denen nicht glaubten, die ihn nach seiner Auferstehung gesehen hatten.“ (Mk 16,14) Es ist entscheidend, dass in der Kirche Menschen zu finden sind, denen man ihren Weg mit Christus glauben kann – jenseits moralischer oder politischer Streitfragen.

2. Jemand sagte mir, die Kirche sei eh nur eine menschliche Einrichtung. Aber sie ist mehr als das.
Sie ist auch der dramatische Ort, an dem die Gnade Gottes auf meine Schuld, seine Liebe auf meinen Hass, sein Wohlwollen auf unsere Verärgerung trifft. Sie ist der Ort, an dem Gott sich offenbart und erkennbar wird. Weil überall da, wo Gott erkennbar wird, die Kirche schon anfängt.
Das ist keine Verharmlosung. Gott lässt sich als Mensch all das antun, was wir einander antun. Deshalb kann die Kirche nicht nur Menschenwerk sein. Und deshalb wird es nie gelingen, die Schuld vollkommen aus ihr zu tilgen. Eine Kirche ohne Sünder ist leer.

3. Gestern haben wir die Messe in einer alten Basilika von 554 gefeiert, deren Vorgängerbau aus dem 4. Jahrhundert noch erkennbar ist. In der Apsis prachtvolle Mosaiken von frühen Glaubenszeugen, Frauen und Männern. Und ich muss daran denken, dass wir Heutigen in der Kirche die Minderheit sind. Auch wenn das nicht alle Fragen beantwortet: Wir tun gut daran, mit den Früheren im Gespräch zu bleiben. Ihrem Bekenntnis dürfen wir glauben, auch wenn wir nicht in allem einen Konsens finden. Die Mehrheit der Kirche ist schon bei Gott. Das hilft mir, mich über die Minderheit der heute Herumlaufenden nicht zu sehr zu ärgern, sondern ihnen – zusammen mit Gott und allen Heiligen irgendwie gut zu sein.

Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Hierzulande werden wir weniger. Weltweit werden wir mehr. Aber Zahlen sind nicht wichtig. Die Apostelgeschichte geht weiter. Wir brauchen Antworten. Und ich vertraue darauf, dass sie ergehen werden.

Fra‘ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Ostern: Zweierlei Morgen-Grauen

Ein Sketch von Diether Krebs und Iris Berben zeigt das Abendgespräch eines Paares. Sie hält ein Glas Wein. Er liest Zeitung. Sie: „Weisst du Herbert, als ich aus dem Fenster sah, graute der Morgen.“ Er schaut auf und sagt: „Dem Morgen.“

„Grauen“ kann beides bedeuten: das Dämmern am Morgen oder das Entsetzen angesichts einer schrecklichen Erfahrung.

An diesem Ostermorgen muss ich an beides denken: an das dämmernde und das entsetzliche Grauen. Die Frauen kommen zum Grab „als es noch dunkel war“ (Joh 20,1). Vor dem Morgengrauen des anbrechenden Lichtes erleben sie jenes andere Grauen: Das Grab ist leer, die Grabesruhe zerstört, der Tote weggenommen. Es muss für die Frauen am Grab eine Fortsetzung, ja Steigerung eines grauenvollen Entsetzens gewesen sein.

Für viele Menschen bedeutet das „Grauen“ am Morgen nicht das Ende der Nacht, der Dunkelheit, der Angst und des Schreckens, sondern ihr Anfang.

Ich denke an Menschen, die an Depressionen leiden, für die am Morgen nicht das beginnende Licht im Dunkel graut, sondern denen schon am Morgen vor dem Tag graut, der ihnen ein nicht zu überwindendes Hindernis scheint.

Auch Menschen, die in dieser Zeit morgens aus den Kellern und U-Bahn-Schächten ihrer nächtlich bombardierten Städte kommen, überkommt das Grauen angesichts dessen, was von ihren Lieben und ihren Häusern noch übrig ist.

Und wie viele Menschen wachen gerade aus einem Traum von einer friedlichen, sicheren, wohlhabenden Existenz auf und sehen das Grauen der wirkliche Welt, die von Gewalt und Krieg, Verfolgung und Flucht gezeichnet ist.

Und dann gibt es jenes andere, das dämmernde Morgengrauen. Wenn die Nacht sich dem Ende neigt, der erste Silberstreifen des Lichtes erscheint und Menschen die Hoffnung haben, dass auch die inneren Nächte von Geist und Seele zu Ende gehen.

„Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaft auferstanden!“ lautet der Ruf der Kirche im heutigen Morgengrauen. Wenn wir den Zeugen der Auferstehung glauben und uns ihrer Kommunikation mit dem Auferstandenen anschließen, dann verändert sich etwas. Dann werden wir durch zweierlei Morgen, zweierlei Erwachen und zweierlei Grauen geführt.

Zweierlei Morgen: Ostern sagt uns, dass heute der Morgen eines neuen Tages ist – und der Morgen einer neuen Zeit.

Zweierlei Erwachen: Wir wachen aus dem Heile-Welt-Traum in der umkämpften Wirklichkeit auf – und wir werden geweckt in ein neues Sehen dessen, was die unsterbliche Liebe tut.

Und zweierlei Grauen: Wir werden bevollmächtigt, uns mutig dem Grauen angesichts menschlicher Abgründe zu stellen – und wir beginnen auszuschauen nach dem Grauen des anbrechenden „Lichtes vom Licht“, das mehr ist als Strahl, Welle oder Photonen.

Von Ostern an halten wir Ausschau. Und wir sehen im Glauben, dass schon jetzt ein neuer Morgen graut. Nicht nur ein neuer Tag, sondern eine neue Zeit.

Und es ist anders als im Sketch: Weder graut diesem Morgen vor uns, noch graut uns vor diesem Morgen. Denn was im Glauben, Hoffen und Lieben begonnen hat, ist der Ostermorgen der Welt. Der Morgen, der „keinen Abend mehr kennt“ (Augustinus).

Fra‘ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Grabesunruhe in Mariupol – Karsamstag (Deutsche Welle am 17. April 2022)

Tote in Tüten. Das waren mit die verstörendsten Bilder vom Krieg in der Ukraine. In Mariupol legen Menschen in Plastik gewickelte Leichen in einen Graben zwischen Häuserzeilen. Der Graben ist nicht sehr tief. Er wird bestenfalls notdürftig zugeschüttet. Aus Hinterhöfen werden Friedhöfe. Oder eher Unfriedhöfe, über die sich eine Grabesunruhe gelegt hat.

Denn es ist schwer vorstellbar, dass die zu Tode Gequälten, die Ermordeten, die Verratenen oder im Stich Gelassenen einfach so „in Frieden ruhen“. Oder dass sich Gewalttätige und Folterer, Mörder und Schlächter einfach lächelnd davon machen in ein „Ruhe im Frieden“.Kann es denn sein, dass in all deren Leben die Bosheit oder das zynische Recht des Stärkeren einfach so folgenlos das letzte Wort haben?

Der heutige Karsamstag ist für Christen der Tag der Grabesruhe Jesu. Gestern, am Karfreitag, hat die Kirche sich an das Leiden und Sterben Jesu Christi erinnert. Er wird unschuldig verurteilt, gefoltert und halb totgeschlagen und am Ende vor den Toren Jerusalems an einen Holzpfahl genagelt bis er stirbt. Eilig wird er von Freunden in das Grab eines Anderen gelegt.

Heute, am Karsamstag, breitet sich in den Kirchen ein großes Schweigen aus. Es finden nur einzelne Gebetszeiten oder Wachen an Darstellungen des Grabes Christi statt. Es ist, als würden sich die Christen weltweit mit den Weinenden auf den Unfriedhöfen von Mariupol und Charkiw und all den stillen Schreckensorten in der Welt verbinden, wo Menschen an den Gräbern ihrer notdürftig verscharrten Lieben trauern.

Es ist nicht so einfach, diese unfriedliche und eigentlich unabsehbare Todesstille auszuhalten. Vor allem dort, wo kein Grund zur Hoffnung mehr erkennbar ist. Vielleicht ist das der Grund, warum in der katholischen Kirche die ursprünglich nächtliche Auferstehungsfeier bis in die 1950er Jahre immer mehr in den Karsamstag hineingewandert war.

Dabei ist für Christen dieser Tag mehr als bloß ein Tag der Grabesruhe. Es ist der Tag, von dem es im christlichen Glaubensbekenntnis heißt, Jesus Christus sei „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Was heißt das? Christen glauben, dass in Jesus Christus sich Gott als Mensch geoffenbart hat. Wenn jemand fragt: Wie ist Gott? Dann zeigen Christen auf Jesus von Nazareth und sagen: „So!“ Aber damit meinen sie nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern eine Identität: Jesus ist Gott der Sohn. In diesem Einen verbinden sich das göttliche und das menschliche Wesen – ohne getrennt und ohne vermischt zu sein.

Im Leiden und Sterben Jesu geschieht etwas Erstaunliches: Jesus erlebt und teilt alle Angst und Verzweiflung, alle empfundene Gottesferne und Verzweiflung, die Menschen kennen. Bis dahin, wo der Mensch schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,2) Zugleich lässt er sich nicht zum Hass bewegen. Er hält die liebende Verbundenheit mit Gott dem Vater durch – bis in die Trennung vom Leben, bis in das „Reich des Todes“.

In den griechischen Mythen versuchen Helden in das Reich des Todes zu gelangen, um ihre Lieben zu retten. Christen behaupten, dass der Mythos im historischen Sterben und Tod Jesu wahr wird. Aber nicht durch Kampf oder listige Prüfung wie bei Achilles oder Orpheus. Sondern indem er den Tod der Ermordeten von Charkiw und Mariupol stirbt und so in das Gefängnis der irdisch Erloschenen einsteigt, aus dem es für uns allein keinen Ausweg gibt.

Mariupol heißt „Marias Stadt“. Maria, die Mutter Jesu, ist die nächste am Kreuz und am Grab. Eine andere Maria (aus Magdala) ist die erste am leeren Grab, am aufgebrochenen Gefängnis des Todes. Überall, wo wir an Gräbern stehen, ist Mariupol, Marias Stadt. Und in der Stadt Mariens wird es einmal sein, dass wir erkennen und feiern dürfen: Einer, der eine unsterbliche Liebe zu uns hat, wird zusammen mit uns das Gefängnis verlassen – und mit denen, die tot in Tüten waren. 

Dieser Artikel erschien am 16. April 2022 unter https://www.dw.com/de/grabesunruhe-in-marias-stadt/a-61394544

Schott Tagesliturgie

Du stirbst meinen Tod: Was der Karfreitag unserer Sterblichkeit sagt

Der Münchner Hauptbahnhof an einem sonnigen Märztag. Wieder kommen in Zügen Flüchtlinge aus der Ukraine an. Ältere Menschen, viele Frauen und Kinder. Etliche mit so wenig Gepäck, dass ich mich schaudernd frage, unter welchen Umständen sie wohl ihre Heimat verlassen haben.

Je mehr Nachrichten und Bilder uns erreichen, umso drängender stellt sich die Frage, wie wir mit einer solchen Flut umgehen. Es ist legitim und notwendig zu entscheiden, was ich an mich heranlasse und was nicht; wie viel Raum und Macht ich welchen Bildern und welchen Bildermachern gebe. Wir können nicht jede Not anschauen, die uns gezeigt wird. Wenn wir die eine anschauen, müssen wir von einer anderen absehen. Nicht alle Not auf der Welt kann uns angehen. Wir sind nicht Gott. Uns geht die Not an, die uns ändern soll oder die wir ändern können.

Das war auch am Anfang des Krieges so. Mittlerweile aber ist die Not, die wir zuerst nur aus den Nachrichten kannten, längst zu uns gekommen. Und je näher uns die Not von Menschen kommt, umso weniger dürfen wir wegsehen. Ich werde nicht allen Menschen helfen können. Aber ob und wie ich für einen Menschen da sein kann, werde ich erst merken, wenn ich ihn ansehe.

Heute ist Karfreitag. Auch der handelt vom Ansehen der Not. Vor 14 Tagen wurden in den katholischen Kirchen die Kreuze verhüllt. Das ist jedes Jahr ein ungewohnter Anblick. Eine Entwöhnung. Wir sollen uns an das Bild des zu Tode gefolterten Mannes nicht gewöhnen, den die Christen als „wahrer Gott und wahrer Mensch“ verehren.

Heute Nachmittag begeht die Kirche die sogenannte „Feier vom Leiden und Sterben Christi“. In diesem Gottesdienst wird an die Passion Jesu erinnert. Dabei wird das Kreuz wieder feierlich enthüllt. Es ist eine Art Sehschule. Wir sollen wieder sehen lernen, was wir übersehen, woran wir uns gewöhnt oder was wir verdrängt haben.

Während des katholischen Karfreitagsgottesdienstes wird der Gemeinde dreimal zugerufen, nicht länger wegzusehen: Ecce! Lautet der lateinische Ruf. Das heißt so viel wie: Da! Sieh hin! Gib acht!

Der bekannteste dieser drei Weckrufe steht im Evangelium nach Johannes: Ecce homo! – Siehe, der Mensch!“ Dieses Wort hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Es gibt eine ganzes Genre von Bildern mit diesem Titel. Napoleon wird das Wort in den Mund gelegt als er 1808 Goethe begegnet. Friedrich Nietzsche hat eine biografische Schrift gleichen Namens verfasst. Und Hilde Domin hat uns ein Gedicht hinterlassen, das mit diesem Wort überschrieben ist.

Es stammt vom römischen Statthalter in Jerusalem, Pontius Pilatus. Bei ihm wird Jesus wegen Gotteslästerung und Aufwiegelung angeklagt. Während des Verfahrens wird Jesus gegeißelt und als Witzkönig verkleidet und verspottet. Mit einer Krone aus Dornen, einem Rohrstock als Zepter und einem alten Soldatenmantel um die Schultern. Als er so vor das Volk geführt wird, sagt Pontius Pilatus: Ecce Homo! Siehe, der Mensch!

Vielleicht hat der Statthalter Roms nur auf diesen einen Menschen zeigen wollen. Als wolle er sagen: „Schaut euch diesen Menschen an!“ Aber dabei hat er zugleich noch mehr gesagt. Er zeigt auf Jesus und damit auf den Menschen schlechthin: Seht hin! Das ist der Mensch! So ist der Mensch! So geht der Mensch mit dem Menschen um. Damit steht das Wort des Pilatus aber nicht nur über dieser Szene, sondern über der ganzen Leidensgeschichte Jesu. Ja, über seinem ganzen Leben.

Was sehen die Menschen, wenn sie dem Weckruf und Fingerzeig des Pilatus folgen? Sie sehen einen leidenden Menschen. Ein Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit. Die Leidensgeschichte Jesu zeigt uns den leidenden Menschen schlechthin: belogen und betrogen, verkannt und verneint, verfolgt und gefangen, geschlagen und gequält. Sei er unschuldig oder schuldig. So, sagt uns der Weckruf des Pontius Pilatus, geht ihr miteinander um – und mit Euch selbst.

Die Gestalt Jesu, auf die Pilatus zeigt, kann dem Betrachter auch seinen eigenen inneren Zustand offenbaren. Wer auf Jesus schaut, sieht sich selbst. Wie im Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde. Äußerlich bleibt der Londoner Lebemann Dorian Gray das blühende junge Leben. Doch in einem magischen Gemälde sieht er mit wachsendem Entsetzen seinen inneren, immer mehr entstellten inneren Menschen.

Wer dem Fingerzeig des Pontius Pilatus folgt, sieht schließlich den entwürdigten Menschen. Den nackt vor die gaffenden Blicke der Masse gezerrten, ganz und gar ausgelieferten Menschen.

Eine besondere Bedeutung liegt dabei in der grausamen Verkleidung Jesu als König. In der Bibel ist der König ist ja nicht nur eine politische Figur. Der König ist ein Bild des ganz freien Menschen. Der König hat seinen Wert nicht von der Wertung der Menschen. Vielmehr hat er seine Würde, die aller Wertung enthoben ist, von Gott. Der wirklich freie Mensch verantwortet sich im Letzten nicht vor Menschen, sondern vor Gott, der das letzte Wort über sein Leben hat.

Hier nun wird uns die Karikatur eines solchen Königs vorgestellt. Einer, der angeklagt ist, sich selbst zum König über andere gemacht zu haben. Einer, dem seine königliche Würde genommen werden soll durch alle Arten von Schimpf und Schande, durch Entblößung und Beschämung, Verleumdung und Verunglimpfung.

Der zweite Weckruf im Karfreitagsgottesdienst steht in der Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja. Die Lesung beginnt mit dem Ruf: „Siehe, mein Knecht!“ (Jesaja 52,13) Und dann folgt die Beschreibung eines Mannes, der auf besondere Weise mit Gott verbunden ist. Er wird von den Menschen gequält, entstellt und schließlich auf grausame Weise getötet. Allerdings bleibt dieser Knecht nicht im Tod, sondern wird – zum Staunen der Welt – von Gott wieder ins Leben geholt.

Zur Zeit Jesu war dieser Text schon gut 500 Jahre alt. Die Zeitgenossen Jesu kannten ihn gut. Und nach dem Tod und der Auferstehung Jesu kam es vielen von ihnen so vor, als hätten sie ein Déjà-vu, als hätten sie das Leiden Jesu schon mal irgendwo beschrieben gesehen. Sie erinnerten sich an diesen Text, das sogenannte „Lied vom leidenden Gottesknecht“.

Ich wehrte mich nicht / und wich nicht zurück. Ich hielt meinen Rücken denen hin, / die mich schlugen, und meine Wange denen, / die mir den Bart ausrissen. Mein Gesicht verbarg ich nicht / vor Schmähungen und Speichel. (Jes 50,5+6)

Mit Jesus war genau das geschehen, was Jesaja gut 500 Jahre zuvor beschrieben hatte. Der angekündigte „leidende Gottesknecht“, so waren die ersten Christen überzeugt, war Jesus selbst.

Und so haben die Jünger Jesu auch die Deutung des Leidens und Sterbens des „Gottesknechtes“ im Buch des Propheten Jesaja auf das Leiden und Sterben Jesu bezogen.
Denn der Gottesknecht ist mit den Leidenden der Welt nicht bloß solidarisch. Vielmehr verbindet er sich in seinem Leiden mit den anderen Menschen in ihrem Leiden. Er geht so an ihre Stelle, dass der Prophet Jesaja schreiben kann: „Er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“. Genau das, sagen ein halbes Jahrtausend nach Jesaja die Zeitzeugen, tut Jesus: Er verbindet sich mit den Menschen auf eine Weise, dass er die Leiden der Menschen wirklich zu seinen Leiden macht.

Ich bin öfters Müttern schwerstkranker oder sterbender Kinder begegnet. Einige von ihnen haben an irgendeinem Punkt gefragt, ob sie nicht an der Stelle ihres Kindes dessen Krankheit und dessen Schmerz tragen könnten. Das mag unvernünftig klingen. Aber die Liebe sagt und will das wirklich. Und die vollkommene Liebe Gottes tut das im Leben Jesu auch. Er verbindet sich mit dem Leben, dem Leiden und dem Sterben eines jeden Menschen – so dass nach seinem Leiden keiner mehr ohne ihn leidet und nach seinem Sterben keiner mehr ohne ihn stirbt.

Das ist gemeint, wenn wir im Alltag von Empathie sprechen. Empathie heißt, dass einer sich „in einen anderen Menschen hineinversetzt“, in seine Sicht, sein Empfinden, seinen Schmerz. Wir Menschen können das nur im übertragenen Sinn. Als Gott der Sohn in Jesus von Nazareth ein Mensch wird, tut er das im wörtlichen Sinn: Er versetzt sich in uns hinein, er lebt, empfindet, liebt und leidet mit uns Menschen.

Deshalb spricht die christliche Spiritualität von „Christus im Nächsten“ oder von „Christus im Armen“. Der, der unser Leben zu seinem Leben, unser Leiden zu seinem Leiden, und unser Sterben zu seinem Sterben macht, der ist da, wo der lebende, leidende, sterbende Mensch ist. Und das gilt bis in die größten denkbaren Abgründe und in die größte Entfernung von Gott – sei sie empfunden oder gewählt.

Das hat Folgen für unser Menschenbild. Mein Nächster ist nicht mehr einfach nur mein Nachbar, mein Verwandter oder ein Fremder. Für „den Menschen“ neben Pontius Pilatus, für den „Gottesknecht“ des Propheten Jesaja und für Gott selbst ist mein Nächster der um alles in der Welt geliebte Mensch. Er ist aus der Perspektive der Christen die Schwester oder der Bruder, für die oder den Jesus gestorben ist. Und was immer wir dem leidenden, bedürftigen und angewiesenen Menschen tun, das haben wir Ihm getan.

Das dritte „Siehe!“, der dritte Weckruf im Karfreitagsgottesdienst der Kirche gehört zum Ritus der Enthüllung des Kreuzes. Nachdem die Passion Jesu gelesen wurde, werden nun nacheinander erst die beiden Arme, dann der Rumpf und die Beine des bis dahin verhüllten Gekreuzigten enthüllt. Dabei wird dreimal gesungen: „Ecce lignum crucis…!“ „Siehe, das Holz des Kreuzes…“

Heute gibt es wieder mehr Leute, die am Kreuz und am Gekreuzigten Anstoß nehmen. Das ist ein gutes Zeichen. Denn der Anblick ist ja eigentlich wirklich unerträglich. Vor vielen Jahren war einer meiner Neffen als Dreijähriger auf einer Reise in einem Gästezimmer untergebracht. Über seinem Bett hing ein ziemlich „explizites“ Erwachsenenkruzifix. Als meine Schwester mit ihm gebetet, gute Nacht gesagt hatte und gehen wollte, fing der Junge an zu weinen und sagte: „Mami, ich will den Mann nicht sehen!“

Recht hat er. Es gibt Anblicke, die unerträglich sind. Genau das sagt auch der Prophet Jesaja über den Gottesknecht.

„Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. […] Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.“

Dennoch wird am Karfreitag gesagt, dass die Menschen wieder hinschauen sollen, wo sie weggesehen haben, dass sie sich erschüttern lassen sollen, wo sie sich gewöhnt haben, und dass sie die Botschaft vom Kreuz hören und tiefer verstehen lernen können, wo ihnen das Kreuz nichts mehr sagt.

Aber warum sollen wir uns das antun? Warum zeigt man uns wieder und wieder die Darstellung eines Mannes, der vor 2000 Jahren auf die denkbar grausamste Weise zu Tode gequält und hingerichtet wurde?

Ein Grund wird schon in dem Ruf bei der Kreuzenthüllung genannt: „Seht, das Holz des Kreuzes“, heißt es da, „an dem das Heil der Welt gehangen. Kommt, lasst uns anbeten.“ Jetzt geht es nicht mehr allein um die Person Jesu, um die Person des Gottesknechtes. Es geht um einen Ort und ein Zeichen. Das Kreuz ist der Ort der Verlorenheit des Menschen schlechthin. Der Ort von Hass und Verwerfung, der Ort der äußersten denkbaren Gottesferne und Verlorenheit. Das Kreuz steht für alle Orte, an denen die Menschheit wie Jesus am Kreuz schreit: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Psalm 22,2)
Von diesem Ort wird gesagt, dass „das Heil der Welt“ dorthin gegangen ist. Nicht als umjubelter Held, nicht als überwältigende Macht. Sondern als einer, der in allem so geworden ist wie wir. – Nur, dass er auch in all dem Hass der Welt mit Gott auf das Innigste verbunden blieb.

Mir hat mal ein Begleiter in einer nicht einfachen Lebensphase gesagt, ich solle mich unter das Kreuz setzen und mir vorstellen, wie es wäre, sich vom Gekreuzigten anschauen zu lassen. Von dem, der die Menschen auch am Kreuz noch liebt, nachdem aller Hass der Welt sich an ihm ausgetobt hat. Das mache ich seitdem immer wieder und empfehle es auch anderen. Der, der mich da anschaut, kennt mich. Er lässt sich antun, was wir einander antun. Und immer noch bleibt er uns gut. Diese kleine Übung hilft mir zu verstehen, dass die durchgehaltene Liebe am Kreuz die Welt rettet. Die Welt wird zuerst von innen gerettet, nicht von außen. Sie wird zuerst durch Gottes Anteilnahme an unserem Leben und durch Anteilgabe an seinem Leben gerettet, nicht durch siegreiche Überwindung.

Wenn ich auf das Kreuz schaue, dann sehe ich, was ich nicht sehen will und wieder sehen lernen soll; was ich verdrängt habe und was sich nicht verdrängen lässt. Ich sehe die Stelle, an der Gott in Jesus in meine Einsamkeit und Traurigkeit, und in meine Gottferne kommt und sie zu seiner macht. Ich sehe das eine Kreuz und die vielen Kreuze der Menschen – und erkenne die Stelle, an der Gott als Mensch die Verlorenen sucht und findet, um sie nach Hause ins Leben zu bringen.

Am Karfreitag 2017 saß ich in einer Kapelle in einem Haus der Jesuiten in Wien. Mit dem Osterfest sollten für mich die sogenannten „Großen Exerzitien“ zu Ende gehen; Für mich standen diese 30 Tage unter besonderen Vorzeichen. Ich hatte mich Anfang des Jahres einer Krebsoperation unterzogen. Jetzt, 90 Tage später, war, wie es aussah, alles gut gegangen, und ich war einstweilen gerettet und geheilt.

Aber der Schrecken des möglichen nahen Todes saß und sitzt mir noch immer in den Knochen. Bis heute hat diese Erfahrung mein Verhältnis zum Leben und zum Tod zutiefst geprägt: zum schon Erlebten und zum noch Verbleibenden, zum Dank und zur Hoffnung, zu Gott und zu meinen Nächsten.

Der Jesuitenpater, der mich in den Exerzitien begleitete, hatte mir am Ende der Karfreitagsliturgie die Aufgabe gestellt, in die Stille zu gehen und mich zu fragen, was ich dem Gekreuzigten sagen wollen oder was der Gekreuzigte mir sagt. Ich saß allein in der Kapelle. In der Karfreitagsliturgie war alles nochmal auf den Punkt gekommen, was ich in den vergangenen Monaten erlebt und durchlitten, erfragt und durchbetet hatte. Siehe, der Mensch! Siehe, mein Knecht! Siehe, das Holz des Kreuzes!

Und mit einem Mal kam mir ein Wort im Blick auf den gekreuzigten Jesus in den Sinn:
„Du stirbst meinen Tod.“

Gott hat mein Sterben zu seinem Sterben und meinen Tod zu seinem Tod gemacht hat. Und wenn die Liebe Gottes das wirklich für uns Menschen tut, dann verliert der Tod seine Macht, weil die Liebe Gottes und wir mit ihr unsterblich sind.

Am Münchener Bahnhof muss ich daran wieder denken. Gott hat Eurer Leben zu seinem Leben und Euer Sterben zu seinem Sterben gemacht. Weil er für uns da ist, können wir mit ihm füreinander da sein. Und weil er Gott ist, ist er auch dort noch für uns da, wo wir nichts mehr füreinander tun können, als den Mann am Kreuz in unser Leben einzulassen, damit er tun kann, was nur die unsterbliche Liebe für uns sterbliche Menschen tun kann.

(Diese Folge wurde am 15. April 2022 im Deutschlandfunk ausgestrahlt: https://www.xn--katholische-hrfunkarbeit-xoc.de/?id=4019)

Schott Tagesliturgie