Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist eines der bekanntesten im Neuen Testament. Vielleicht auch deshalb, weil es ein universales Gebot beschreibt, das nicht nur Christen als verbindlich ansehen: Geh an der Not deiner Nächsten nicht achtlos vorüber!
„Wer ist mein Nächster?“ fragt ein Gesetzeslehrer. Der wollte Jesus argumentativ in Widersprüche verwickeln. Als das nicht gelingt, will er sich rechtfertigen und fragt nach.
Es mag eine Verlegenheitsfrage sein. Aber unberechtigt ist sie nicht. Sind „meine Nächsten“ meine besten Freunde, die wenigen, die ich zuerst wegen einer existentiellen Begebenheit konsultieren würde? Sind es die, die meiner sozialen Herkunft, meinen Interessen, meinem Geschmack oder ähnlichem am nächsten sind?
Oder ist es jeder Bettler, der mich auf meinem Fußweg zwischen meiner Wohnung und der Kirche in der Altstadt anspricht? Wie weit käme ich dann?
Offenbar sind nicht nur Menschen gemeint, die mir liegen oder ähnlich sind. Und es ist offenbar auch nicht alle Not gemeint, die mir begegnet. Es ist jeder Mensch in meiner Nähe gemeint, der in einer aktuellen Not ist, die mich „ruft“. – Die mich ruft, weil sie keiner so wie ich, nirgends so wie hier, niemals so wie jetzt lindern kann.
Doch hier geht es nicht nur um die Not der Anderen. Sondern auch um meine eigene Not. Ich finde es legitim zu sagen, die Moral von der Geschichte sei: Hilf Deinem Nächsten! Aber in Wirklichkeit geht die Antwort Jesu noch weiter.
Es gibt nämlich eine Sache, über die ich jedes Mal stolpere, wenn ich die Geschichte lese: Die Frage des Gesetzeslehrers lautet: „Wer ist mein Nächster?“ Die Antwort Jesu lautet: Der Nächste des unter die Räuber Gefallenen ist der, „der barmherzig an ihm gehandelt hat“.
Die Antwort Jesu scheint mir eine dreifache zu sein:
Erstens: Der unter die Räuber Gefallene bist auch Du selbst.
Zweitens: Dein erster Nächster ist der, der an Deiner Not nicht achtlos vorüberging.
Drittens: Dass einer an Deiner Not nicht achtlos vorüberging, befähigt Dich, genauso zu handeln und zum helfenden Nächsten Deiner Nächsten zu werden.
In der Darstellung des Barmherzigen Samariters im Rossano-Codex aus dem 6 Jahrhundert ist der Samariter mit einem Heiligenschein (Nimbus) mit Kreuz dargestellt. Das heißt: Der Allernächste des Menschen, der Samariter aller Leiden, auch der verborgensten, ist Christus. Und alle, die nach ihm kommen, werden es zusammen mit ihm – um ihrer Nächsten willen, die in Not sind.
Wie der unter die Räuber Gefallene bin ich
unter die Schläge meiner Gedanken gefallen.
Wund und misshandelt bin ich
am Wegrand auf der Strecke geblieben.
Du aber gehst
an meiner Not nicht
und an keines Menschen Not vorüber.
Du bleibst stehen
und hast Erbarmen mit mir.
Du schenkst mir
stehen zu bleiben
(oder nochmal umzukehren)
und Erbarmen zu haben mit denen,
die Du mir gibst.
Amen.
(nach Andreas v. Kreta, 8. Jh.)
Fra‘ Georg Lengerke