WACH (1. Advent) Mt 24,37-44

„Der Gehorsam, der mir am schwersten fällt, ist nicht der gegenüber meinen Brüdern“, sagte mir einmal ein Ordensmann, „der schwerste Gehorsam ist der gegenüber meinem Wecker.“

Für die christliche Spiritualität ist das Erwachen mehr als bloß das Ende der Nachtruhe, und Wachheit ist mehr als bloß die Abwesenheit von Schlaf. „Die Stunde ist gekommen, um aufzustehen vom Schlaf,“ schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom (13,11). Und wie eine Überschrift steht über dem Anfang des Kirchenjahres und über dem Advent das Wort Jesu: „Seid wachsam!“

Die Haltung der Wachsamkeit hat in den vergangenen Jahrzehnten allgemein mehr und mehr Aufmerksamkeit bekommen. Zum einen in der Idee der Achtsamkeit, die eine sensible Wahrnehmung sowohl der eigenen Umwelt als auch der inneren Bewegungen und Stimmungen meint. Zum anderen im Gedanken der Wokeness, bei der es ursprünglich um eine größere Sensibilität gegenüber rassistischer Diskriminierung und Benachteiligung ging.

Wie bei allen menschlichen Bestrebungen gibt es auch hier die Gefahr des Zuviel oder Zuwenig.

Auf der einen Seite lauert die Gefahr geistiger Verschlafenheit, der Indifferenz gegenüber Unrecht, der Beschränktheit in der eigenen Blase und einer dadurch bedingten Verführbarkeit.

Auf der anderen Seite gibt es eine misstrauische Überempfindlichkeit, den Absolutheitsanspruch der Betroffenheit, und einen Antirassismus, der zum Gegen-Rassismus wird.

Die christliche Tugend der Wachsamkeit, an die wir am Anfang des Advents erinnert werden, schließt die hellwache, nüchterne Wahrnehmung der inneren und äußeren Wirklichkeit ein, auch der uns umgebenden Ungerechtigkeit und Verletzungen der Menschenwürde.

Aber sie geht weiter. Sie richtet sich nicht bloß auf die Wahrnehmung von Umständen und Zuständen, die dann vor das oft unerbittliche Tribunal des inneren oder kollektiven Richters gezerrt werden. Sie ist eine Beziehungssache.

Die Wachheit des Christen ist empfänglich für Zeichen der Gegenwart Gottes und seines Wirkens, für Entsprechungen zwischen Wirklichkeit und Evangelium – und in allem für das Kommen Christi in die Welt. Die christliche Wachsamkeit ähnelt einem Hausherrn, der sein Haus nächtens vor Einbruch schützt, einer Gastgeberin, die im bereiteten Haus auf die Gäste wartet, einem Vater, der seinem heimkehrenden Sohn entgegenläuft, damit der sich vor dem Elternhaus nicht zu Tode schämt.

Die Wachheit des Christen stellt alles, was sie wahrnimmt, vor Gott und stellt sich Gottes Blick auf die Wirklichkeit vor, wie er im Schauen Jesu offenbar wird. Sie unterstellt nichts, sondern stellt alles unter dieses Licht. Darin urteilt sie, verurteilt aber nicht – sondern überlässt das letzte Urteil Gott, weil nicht der Mensch das letzte Wort über den Menschen hat.

Der Advent ist früher Morgen!, sagen die Texte der Lesungen. Es ist Zeit aufzustehen! So wie am Morgen „die Nacht vorgerückt“ und „der Tag nahe“ ist, so ist „jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden“, schreibt der Apostel Paulus (Röm 13,11-12).

Aufstehen lohnt sich. Und je mehr ich mich auf den Tag freue, umso leichter fällt mir der Gehorsam gegenüber dem Wecker.

Fra’ Georg Lengerke

Königliche Audienz am Kreuz Lk 23,35b-43

Als der ägyptische König Faruk 1964 abdankte, meinte er, im Jahre 2000 gäbe es nur noch fünf Könige: die vier aus dem Kartenspiel und den englischen. Als das Christkönigsfest 1925 in der katholischen Kirche eingesetzt wurde, war der Anfang vom Ende der europäischen Königreiche längst gekommen. Doch die Verehrung Christi als König war keine kirchliche Restauration. Sie erzählt die Wahrheit von der Würde des Menschen, die zeitlos gilt.

Der König, von dem dieses Fest handelt, ist kein Politiker. Sein Reich ist „nicht vondieser Welt“, auch wenn es in dieser Welt beginnt. Der König ist der Mensch, der alles, was er ist und hat und vermag, nicht von unten empfängt, sondern von oben, nicht von Wahl, Mehrheit und Meinung der Menschen, sondern „von Gottes Gnaden“. Er ist der, der sich von Gott empfängt und vor Gott verantwortet – weil alle anderen Autoritäten bestenfalls „Gottes Stellvertreter“ sind, aber nicht Gott. Er ist der, der als „Bild des unsichtbaren Gottes“, die Menschen sammelt, so unter ihnen dient und so über sie herrscht, dass sie gerade bei ihm die wahre Freiheit finden.

In der Geschichte wird dieses Königtum zunächst unannehmbar sein. Sein Erscheinungsbild ist armselig. Sein Anspruch ist ein Skandal. Seine Existenz eine Infragestellung aller bloß menschlichen Macht. Deshalb muss es verschwinden.

Der „König der Juden“ wird verurteilt und in allen Weltsprachen verspottet. Der Verurteilte wird als Karikatur eines Königs verlacht und geschändet. Sein Reich scheint schnell besiegt. Noch während der Todesfolter ruft man ihm zu, er solle sich und die anderen doch retten, wenn er denn wirklich ein König sei…

Ersteres unterlässt er, um letzteres zu tun: indem er sich nicht rettet, rettet er die anderen. Weil er bei ihnen bleibt. Weil er einer von ihnen wird. In allem wie sie. Außer in der Sünde. Er geht dahin, wo das Leiden und die Schuld am allergrößten sind. Er geht an die Stelle der Opfer. Und er geht an die Stelle der Täter. Er lässt sich antun, was die verdient haben, zu denen er geht.

Am Kreuz hält der König seine letzte Audienz. Nicht mit denen, die gnädigerweise vor ihn gelassen werden. Sondern mit denen, zu denen er sich hat verdammen lassen. Nicht mit den Fürsten oder den verdienten Bürgern seines Reiches. Sondern mit den Verworfenen, die keiner mehr kennen will.

Doch einer von ihnen erkennt ihn und erkennt zugleich sich selbst: „Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.“ Und er spricht eine Bitte aus, die hier erstmalig ein Verlorener mit Hoffnung auf Erhörung einem König zuruft: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ „Heute noch“, antwortet der König, „wirst Du mit mir im Paradiese sein“.

Am Ende der Zeit wird es nicht nur fünf Könige geben, sondern ungezählte. Am Ende der Zeit werden wir mit dem König als königliche Menschen offenbar – von Gott erkannt, versöhnt und befreit. Am Ende der Zeit – oder „heute noch“.

Fra’ Georg Lengerke

Woran wir kleben Lk 21,5-19

Seit Beginn der Pandemie gehe ich möglichst viele Wege durch die Stadt zu Fuß. Das ist nicht nur gesund, sondern manchmal auch schneller als mit dem Auto. Zum Beispiel letzten Montag am Stachus, weil sich einige Klimaaktivisten auf der Straße festgeklebt haben.

Die Unbedingtheit, mit der sie vor einer menschengemachten Unbewohnbarkeit der Erde warnen, beeindruckt mich. Ihre Methoden finde ich fragwürdig.

Die Sorge um das Ende der sichtbaren Welt findet sich auch in der Bibel. Auch die Warnung, die uns anvertraute Welt nicht zu zerstören. Darin sollten wir uns also mit allen Menschen guten Willens einig sein.

Allerdings sagt die Offenbarung auch, dass das Ende der vergänglichen Welt unausweichlich ist. Aber nicht wir dürfen es herbeiführen, sondern Gott wird es tun.

Doch was Gott herbeiführt, sagt die Schrift, ist nicht bloß Ende, sondern Vollendung, nicht bloß Zerstörung, sondern Verwandlung, nicht bloß Untergang, sondern Aufgang, nicht bloß Abschied, sondern Ankunft.

Jesus ist sehr nüchtern, wenn es um diese Dinge geht. Panikmache ist ihm fremd. Uns offenbar nicht. Deshalb zuerst die Mahnung: „Gebt acht, dass man Euch nicht irreführt.“ Wer Angst hat, wird verführbar. Von Stimmen, die einlullen oder Panik verbreiten. Von Stimmen, die vom Ende nichts wissen wollen oder allzu genau zu wissen meinen, wann und wie das Ende kommt.

Mir hilft die Auslegung der endzeitlichen Texte durch die Theologen der frühen Kirche:

Für Athanasius fängt die Irreführung damit an, dass wir uns „die Gnaden und Lehren“ nehmen lassen, „die über den Menschen hinausgehen“, wie „die Teilhabe am himmlischen Leben, die Gotteskindschaft, die Erkenntnis des Vaters und die Gabe des Wortes und des Heiligen Geistes“. Wo es keine Wirklichkeit über die sichtbare hinaus geben darf, hat die Irreführung schon begonnen.

Die Phänomene des Endes deuten die Väter vom inneren Menschen her: „Erdbeben“ sind nicht bloß tektonische Verschiebungen, sondern Erschütterungen des Menschen. „Hungersnöte“ sind nicht bloß Mangel an Nahrung, sondern an göttlichem Sinn. „Kriege und Unruhen“ sind nicht bloß Auseinandersetzungen zwischen Ländern oder Parteien, sondern innere Kämpfe der Willensbestrebungen im Menschen.

Bei solch einer Lesart geht es nicht um eine Weltflucht nach innen, sondern darum, dass innen und außen zusammengehören:„Zuerst verlieren die Herzen der Menschen ihre Ordnung, danach erst die Kräfte der Natur“, schreibt Gregor der Große.

Es ist zu wenig, dass wir die Welt nicht zerstören. Unser Ziel soll sein, dass wir „das Leben gewinnen“. Dieses Leben, das der Tod nicht töten kann, kommt da zum Vorschein, wo die unendliche Liebe Gottes zu seiner endlichen Welt angenommen, angebetet und mitvollzogen wird – von Menschen, die immer mehr Liebende werden.

Wir dürfen nicht zerstören, was uns anvertraut ist. Aber wir sollten uns auch nicht an das kleben, was vergänglich ist. Strecken wir uns lieber nach dem aus, der uns von jenseits unserer Endlichkeit entgegenkommt.

Fra’ Georg Lengerke

Leben ohne Nachspielzeit Lk 20,27-38

Im Jurastudium bekamen wir zu Übungs- oder Prüfungszwecken manchmal ziemlich unrealistische, konstruierte Fälle gestellt. An die erinnert mich der Fall, den die Sadduzäer für Jesus erfinden:

Die Witwe eines Mannes soll seine sechs nacheinander versterbenden Brüder heiraten, um dem ersten nach jüdischem Recht „Nachkommen zu verschaffen“. In allen sieben Fällen erfolglos. Um die Idee der Auferstehung der Toten ad absurdum zu führen, stellen sie die abschließende Fangfrage: „Wessen Frau wird sie nun bei der Auferstehung sein?“

Man kann diesen Fall abstrus finden – oder ekelhaft. Aber der Wunsch des Menschen, sich über seine eigene Lebenszeit hinaus zu verlängern, ist heute so aktuell wie damals. Entweder durch die (von den Sadduzäern verspottete) Vorstellung einer Neuauflage des irdischen Lebens nach der Auferstehung von den Toten. Oder – häufiger noch – in dem Gedanken der Verlängerung des eigenen Lebens im Leben der Nachkommen.

Der letztgenannte begegnet mir heute vor allem in zwei Varianten:

In der ersten stellen Menschen sich vor, in ihren Kindern und Enkeln irgendwie „weiterzuleben“. Auf Nachfrage, wie ich mir das vorzustellen hätte, ob ihre Kinder wirklich dazu da seien, eine fremde Identität weiterzutragen, und wie viele Vorfahren-Identitäten denn dann in der kleinen Enkelin versammelt seien, werden Theorien aufgetischt, die nicht weniger abstrus sind als der Fall der Sadduzäer.

Die zweite Variante begegnet uns, wo wir lesen, die Verstorbenen würden „in unseren Gedanken“ oder „in unserer Erinnerung“ weiterleben und wirklich tot sei nur, wer vergessen werde. Dass uns das zu Herren über das Weiterleben unserer Vorfahren macht und unsägliche Gewissensqualen bereiten kann, wo ein Verstorbener durch Vergessen also ein zweites Mal „getötet“ wird, tut solchen gängigen Vorstellungen keinen Abbruch.

Jesus Christus hat solchen Ideen vehement widersprochen. Nicht wir selbst oder unsere Nachfahren sind es, die unser Weiterleben sicherstellen. Es ist „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (und wir könnten hier die Namen unserer Vorfahren und unsere eigenen einsetzen), der uns das Leben, das Dasein füreinander und die unzerstörbare Gemeinschaft mit ihm schenkt.

Diese unzerstörbare Gemeinschaft mit Gott und miteinander nennen wir „Himmel“. Das Himmelreich hat mit dem Kommen Jesu auf Erden bereits begonnen. Wir sollen es suchen und finden, aufbauen und ersehnen, bis es sich bei Gott einmal vollendet.

Die Eheleute bezeugen in ihrer Nachfolge Christi einander und miteinander den Himmel. Sie bauen mit an seinem Anbruch in der Welt und gehen miteinander und den Ihren auf ihn zu. Frauen und Männer, die den Ruf verspüren, „um des Himmelreiches willen“ (Mt 19,12) auf Ehe und Nachkommen zu verzichten, erinnern uns daran, dass auch Liebende füreinander nicht der Himmel sein können.

Menschen, die in die ehelose Nachfolge Christi gerufen werden, sagen uns, dass der Himmel eine Realität über uns hinaus ist. Dieser Realität verschreiben sie sich, wie andere sich z.B. einer Familie verschreiben. Sie investieren ihr Leben, um gerade denen die Gegenwart des Himmels und der Liebe Christi zu bezeugen, die sie mit Familie nicht erreichen würden. Sie verzichten auf biologische Kinder, um zusammen mit vielen geistlichen Kindern in den Himmel zu kommen.

Dort wird es keine sieben Ehemänner mehr geben, keine Witwen und keine Übriggebliebenen, sondern nur noch Kinder Gottes, die der unsterblichen Liebe Gottes von Angesicht zu Angesicht begegnen werden.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Allerheiligen – Wiedersehen mit den Bedrängten Offb 7,2-4.9-14 (Predigt)

Wenn wir alte Bekannte nach sehr langer Zeit wieder sehen, haben sie sich meist verändert. Manchmal so, dass sie nur schwer zu erkennen sind.

Vom Wiedererkennen der Schar der Heiligen „die aus der großen Bedrängnis kommen“ (Offb 7,14), von der Bedrängnis, aus der sie kommen und in der wir noch sind, und davon, dass wir mit ihnen zu dem gehören, dessen Liebe nicht tot zu kriegen ist – davon handelt die heutige Predigt zum Allerheiligenfest in St. Peter, München, deren Mitschnitt hier gehört werden kann.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie