TRIEB (2. Advent) Jes 11,1-10

Mein Vater erzählte vor vielen Jahren einem Bekannten von meinem Entschluss, Priester zu werden. Sein Kommentar: „Ach, wie schade… Ein verdorrter Ast am Stamm.“

Mein Vater war verstimmt (und blieb es noch lange). Denn hier diente das Bild vom Zweig am Baumstamm der Verächtlichmachung. Beim Propheten Jesaja dagegen ist der Trieb aus einem alten Baumstumpf ein Bild für die Ankündigung des Messias, des gesalbten Gottkönigs: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ (Jes 11,1) Gott knüpft bei seinem Kommen noch einmal beim Geschlecht Davids an, sagt der Prophet. Aber nicht bei König David selbst, der das Königtum verdorben hatte. Sondern eine Generation früher bei Davids Vater Isai.

Auf diesem neuen, königlichen Trieb ruht der Geist Gottes, sagt Jesaja. Und es folgt die wunderbare Aufzählung der sechs Gaben des Heiligen Geistes, aus denen die christliche Tradition später sieben machte: „der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“. Später gesellt sich noch die „Frömmigkeit“ als eigene Gabe hinzu.

Die christlichen Theologen werden dann im 5 Jahrhundert von Jesus Christus sagen, er sei „wahrer Gott und wahrer Mensch“ gewesen – „ungetrennt und unvermischt“ (Chalzedon 451). Er ist ganz Mensch: Trieb oder Sproß eines menschlichen Geschlechts, mit den Trieben und Begehren eines Menschen. Zugleich ist er ganz Gott und im Vollbesitz des Geistes Gottes. Der Geist Gottes ist es, der den Menschen mit allen seinen natürlichen Anlagen im Lot hält, ihn Gott erkennen lässt und seine ganze Größe und Schönheit zum Vorschein bringt.

Aber nochmal zurück zum „verdorrten Ast am Stamm“. Als Mensch bin ich in der Tat ein Ast, ein „Trieb“ oder ein „Spross“ am Stamm einer Familie und einer Reihe von Generationen. Im Deutschen bezeichnet „Trieb“ aber auch einen Drang oder ein angelegtes Begehren im Menschen, das auf die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse zielt. Wir sind ein Trieb und haben Triebe.

Den Menschen unterscheidet vom Tier, dass er seinen Trieben nicht einfach ausgeliefert ist. Er kann sich zu seinen Trieben verhalten. Je nach geistiger Reife und Gesundheit, je nach Prägung und Lebensphase gelingt das mal besser, mal weniger gut.

Wo der Mensch jedoch rein triebgesteuert agiert, geht das Leben schief. Sein eigenes und das seiner Nächsten. Der Mensch fällt zurück in den Dschungel – oder in den Zoo der Abhängigkeit von Menschen, die selbst nicht in die Triebfalle getappt sind, aber die Triebe anderer zu triggern wissen.

In seiner Menschwerdung macht Gott unser leibliches Leben zu seinem. Er wird ein menschlicher Trieb mit menschlichen Trieben. Ein Mensch, der ganz frei ist, weil sein Trieb-Sein und seine Triebe sich ganz in ihrer göttlichen Ordnung entfalten. Warum tut Gott das? Damit wir Anteil bekommen an diesem ganz menschlichen und ganz göttlichen Leben.

Darauf soll es mir ankommen in diesem Advent: erstens, dass ich mich freue, dass Gott ein Trieb wird, wie ich einer bin; zweitens, dass ich erkenne, was mich gerade treibt und wohin; und drittens, dass ich mich vom Geist Gottes treiben lasse, um immer mehr ein Liebender zu werden.

Wenn das geschieht, dann brauche ich mich nicht zu sorgen, ein verdorrter Ast am Stamm zu sein.

Fra’ Georg Lengerke