Das Grab nahe am Ziel Ez 37,12b-14

Wenn man von Osten kommend den letzten Weg Jesu nach Jerusalem geht, dann ist die letzte Höhe, die man überwinden muss, der Ölberg. Von ihm aus hat man einen berühmt schönen Blick auf die Heilige Stadt und den Tempelberg, bis hinunter in das Tal, wo am Fuß des Ölbergs der Garten Getsemani liegt.

Auf der Bergseite, die der Stadt zugewandt ist, befindet sich der älteste und bedeutendste jüdische Friedhof der Welt. Zwischen zwei- und dreihunderttausend Grabplatten bedecken den Hang. Alle sind in Ost-West-Richtung auf den Tempelberg hin ausgerichtet. Wer einmal hier war, dem kommt sofort die Ähnlichkeit zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin in den Sinn.

Die rabbinische Tradition geht davon aus, dass hier die Auferstehung der Toten beginnt, wenn der Messias kommt und mit den Auferstandenen vom Ölberg durch das bis dahin verschlossene Goldene Tor zum Tempelberg in die Stadt einzieht.

Wenn ich mit Pilgern diesen Friedhof besuche, ist einer der Texte, die wir dort lesen, immer die heutige Lesung aus dem Propheten Ezechiel: „Siehe, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf.“ (Ez 37,12b)

In der antiken Synagoge von Dura Europos im Osten Syriens gibt es einen Bilder-Zyklus des Buches Ezechiel, wo unsere Lesung mit einer Stelle aus dem Buch Sacharia verbunden wird: Wenn der Messias kommt, zerbricht der Ölberg und gibt die Toten heraus, die mit ihm in die Stadt ziehen.

Für den modernen Menschen ist die Vorstellung geöffneter Gräber und hervorgeholter Toter schwer erträglich. Zu schnell stellen sich Nachrichtenbilder von Exhumierungen oder Erinnerungen an Filme mit halbverwesten Untoten ein.

Aber dennoch rührt mich dieses Bild der Gräber gegenüber dem Tempelberg und das Zeugnis der Auferstehungshoffnung Israels an. Es ist, als hätten dort die Frommen ihre Toten in Wartestellung beerdigt. Auch ist die so konkrete Vorstellung der Auferstehung dem christlichen Dogma von der „Auferstehung des Fleisches“ ja nicht völlig fremd. Auf wenn wir glauben, dass unser Leib als „verklärter Leib“ auferstehen wird.

Nicht weit vom Ölberg, ein wenig weiter im Osten, liegt Betanien. Das ist der Heimatort des Lazarus, den Jesus im heutigen Evangelium von den Toten auferweckt hat. Denen, die dabei waren, offenbarte sich Jesus schon hier als Herr über Leben und Tod, als der, der sich selbst „die Auferstehung und das Leben“ nennt.

Er wird sterben. Der Hass der Welt wird sich an ihm austoben. Und in alledem bleibt er der ganz mit dem Vater in der Liebe Verbundene. Und in dieser Verbundenheit mit Gott dem Vater besiegt er den Tod – für alle und zusammen mit allen, zu denen er gegangen ist.

Ich glaube, dass der, auf den die Toten am Ölberg warten, schon gekommen ist. Und noch immer im Kommen ist – auch zu ihnen. Dass er den Tod schon überwunden hat und noch immer überwindet – auch um ihretwillen. Dass er hineinführt und hineinführen wird in die Heilige Stadt und das Gelobte Land – die Toten zusammen mit uns.

In jene Stadt und jenes Land, die nicht mehr verteidigt werden müssen und uns nicht mehr genommen werden können, weil selbst der Tod keine Macht mehr hat über sie.

Wenn ich – so Gott will – im Herbst wieder am Ölberg stehe, dann werde ich mitten unter den Gräbern mit den Toten und für sie um diese Ankunft bitten und ihnen sagen, dass ich mich auf sie freue in der Heiligen Stadt, die der Himmel ist.

Fra' Georg Lengerke

Hinter die Blindenbinde sehen 1 Sam 16,1b.6–7.10–13b

Oft überrascht mich die Aktualität eines
uralten Wortes aus der Heiligen Schrift für unsere Zeit. Zum Beispiel das
Bußgebet des Daniel, das in der Fastenzeit häufiger gelesen wird: „Ach, HERR,
wir sind geringer geworden als alle Völker. In aller Welt sind wir heute wegen
unserer Sünden erniedrigt. Wir haben in dieser Zeit weder Vorsteher noch
Propheten und keinen, der uns anführt.“ (Daniel 3,37.38)

Das beschreibt für mich gut, wie es gerade um
die Kirche steht. Wir sind überall wegen unserer Sünden erniedrigt. Und wir
haben einen eklatanten charismatischen Führungskräftemangel. Übrigens nicht nur
in der katholischen Kirche, sondern auch in Kirchen und Gemeinschaften, die
andere Zulassungsbedingungen zu ihren anders verstandenen Ämtern haben.

Ich weiß, es gibt eine gefährliche Sehnsucht
nach dem „starken Mann“. Auch in der Kirche. In der Politik zeigt die sich
häufig am Vorabend von Terrorregimen. Der erhoffte messianische Heilsbringer
entpuppt sich als Verderber.

Vielleicht ist es die Angst vor solcher
Überhöhung und Verderbnis, die Menschen misstrauisch werden lässt. Manchmal so
sehr, dass sie jede Macht des Missbrauchs, jede Weisheit der Besserwisserei,
jede Weisung der Übergriffigkeit verdächtigen und jeden Unterschied in der
Begabung letztlich für Ungerechtigkeit halten.

Diese Angst mag auch der Grund dafür sein,
den Mangel an prophetischen und vollmächtigen, weisen und glaubwürdigen Frauen
und Männern, an vertrauenswürdigen Vater- und Mutterfiguren gar nicht erst zu
benennen oder zu beklagen, und nicht auszusprechen, dass wir „in dieser Zeit
weder Vorsteher noch Propheten [haben] und keinen, der uns anführt“.

In einer vergleichbaren Not schickt Gott im
Ersten Buch Samuel (16,1-13) den gleichnamigen Propheten in das Haus des Bethlehemiters
Isai, um denjenigen seiner Söhne zum König zu salben, den der Herr dem
Propheten zeigen würde. Nacheinander treten die Söhne, einer schöner und
stattlicher als der andere, vor ihn hin. Keiner ist der Erwählte. Bis der
jüngste, aus dem Blick geratene Sohn David von der Weide und den Schafen
herbeigeholt ist und Samuel Gott sagen hört: „Auf, salbe ihn! Denn er ist es.“

Woher weiß Samuel das? Weil die Kriterien
Gottes andere sind: „Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht.
Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der HERR aber sieht das Herz.“

„Man sieht den Leuten nur vor den Kopf“, sagt
der Volksmund. Vielleicht aber auch deshalb, weil das einfacher und
schmerzloser ist, weil wir mehr nicht sehen wollen. Nelly Sachs schreibt:

„Samuel sah
hinter der Blindenbinde des Horizonts –
Samuel sah –
im Entscheidungsbereich
wo die Gestirne entbrennen, versinken,
David den Hirten
durcheilt von Sphärenmusik.“

Je mehr wir in Parteien und Lagern denken und
darauf schauen, woher einer kommt, zu wem einer gehört, wie einer „sich macht“
– umso schmerzlicher werden uns jene fehlen, die mit uns die Wege Gottes für
die Kirche in dieser Zeit finden, wählen und gehen können.

Um die auszumachen, braucht es Leute wie
Samuel, die mit Gott „das Herz sehen“. Also die Mitte der Person, die Reinheit
ihrer Absicht, ihre Offenheit für Wort und Wirken Gottes und für die Führung
des Heiligen Geistes, ihre Güte und Wahrhaftigkeit.

Darum bete ich in dieser Fastenzeit: um Menschen,
die hinter die „Blindenbinde des Horizonts“ sehen und auf die abgelegenen
Weiden der Kirche, um jene zu finden, deren Herzen begabt und bereit sind, zu
raten und zu erziehen, zu leiten und zu lehren –

und vor allem in alledem zu lieben.

Fra' Georg Lengerke

Murren – Kirche im Kindersitz Ex 17,3-7

Als Kinder konnten wir – wie die meisten Kinder –unausstehlich sein. Vor allem auf längeren Autofahrten. Quengelnd und maulend, nichts war recht. Auch bei uns gab es die bald völlig unglaubwürdige Drohung: „Gleich steigt Ihr aus!“ Neulich erzählte der Kabarettist Johann König, dass sein Bruder und er dieselbe Drohung auf Autofahrten auch nicht ernstgenommen hätten – bis seine Mutter eines Tages sagte: „Wir hatten vor Euch schon mal zwei Kinder…!“

Die heutige erste Lesung erzählt von der Durststrecke des Volkes Gottes durch die Wüste nach dem Auszug aus Ägypten. Gott sorgt für sein Volk. Aber das Volk murrt. Es ist unausstehlich. Es murrt gegen Gott und gegen Mose. Es murrt, weil das Essen fehlt oder sie langweilt, es murrt, weil sie Durst haben, weil die Sonne heiß und der Weg lang ist.

Nicht, dass Hunger, Durst und Hitze Lappalien wären. Der Weg durch die Wüste war beschwerlich, gefährlich und schwer erträglich. Aber so ist das mit unseren Wegen in die Freiheit.

Das Schlimme am Murren ist, dass es mit der Verhärtung der Herzen einhergeht. Mit einer Vergesslichkeit in Bezug auf das gewesene Gute, einer Unempfänglichkeit für das gegenwärtige Gute und dem Desinteresse am verheißenen, kommenden Guten. Vergessen war das Leiden in Ägypten. Nur die dortigen Fleischtöpfe flimmern noch vor den Augen. Vergessen war die wunderbare Befreiung und die Sorge Gottes in der Wüste. Der ganze Auszug schien nur noch Irrtum und List gewesen zu sein, um sie letztlich doch in der Wüste umzubringen.

Das Murren ist eine Versuchung bis heute. Auch in der Kirche. Und zwar in allen Lagern. Man kann mitunter gar den Eindruck bekommen, das Murren gehöre zum guten Ton. Wer nicht murrt, verkennt den Ernst der Lage und verharmlost die Krise. Murren tritt an die Stelle von Gespräch und Gebet. Murren wird zur Kirchenpflicht des kritischen Christenmenschen.

Im 85. Psalm ruft der Beter: „Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören!“ Und er lässt Gott sagen: „Verhärtet euer Herz nicht wie in Meríba, wie in der Wüste am Tag von Massa! Dort haben eure Väter mich versucht, sie stellten mich auf die Probe und hatten doch mein Tun gesehen.“

„Mein Tun“ – was ist das? Dass Gott in der Wüste für sein Volk sorgt. Über Brot und Wasser hinaus. Manchmal auch so, dass erst der Mangel an Brot und Wasser hilft, wieder zu entdecken, dass der Mensch von mehr lebt als bloß von Brot und Wasser (Dtn 8,3-6).

Neulich sprach ich mit jungen Eltern über längere Autofahrten mit ihren Kindern. Sie fanden Hörbücher gut. Filme weniger. Kinderproviant helfe, hieß es, und anderes mehr. Aber alle waren sich einig: Die Kinder müssen auch lernen, mit Durststrecken umzugehen.

Auch darum geht es auf den Durststrecken durch die Wüste: um die Einübung von Glaube, Hoffnung und Liebe in der Krise. Um geistliche Widerstandskraft. Um die Bereitschaft, an Schwierigkeiten zu wachsen. Um ein Vertrauen, dass sich in der Not bewährt und dem, der treu war, auch in der Not glaubt, dass er treu sein wird. Um eine Wiederentdeckung des Gottes, der mit seiner Kirche durch die Wüste zieht.

Der heilige Paulus schafft im Ersten Korintherbrief eine Verbindung zwischen der Erzählung von Massa und Meriba und dem heutigen Gespräch Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4, 5–42). Er sagt: Der Fels, aus dem Mose das Wasser schlägt, bedeutet Christus, der mit seinem Volk durch die Wüste zieht (1 Kor 10,4).

Wo wir aufhören zu murren, und wieder mit Christus verbundene Menschen werden, da werden wir uns auf der Durststrecke bewähren. Und er gibt Wasser, das den Lebensdurst stillt und die Menschen, die davon trinken, zur Lebensquelle für andere macht.

Fra’ Georg Lengerke

Der raue Daumen-Segen Gen 12,1-4a

Meine Großmutter hatte einen rauen Daumen. Als Kind spürte ich, wie der mich kratzte, wenn sie mir damit ein Kreuz auf die Stirn machte. Einen Segen stellt man sich vielleicht irgendwie zart vor. Aber ich mochte das. Der Segensdaumen meiner Großmutter war liebevoll, aber eben etwas rau. Und das passte zu ihr. Vielleicht auch deshalb, weil ihr eigenes Leben sehr, sehr rau gewesen war.

In der Kirche ist der Segen in letzter Zeit zum Zankapfel geworden. Weil sich an ihm der Streit entzündet hat, wo und wofür Vertreter der Kirche stehen, was sie billigen, gutheißen, fördern und also „absegnen“.

Beim Segen Abrahams geht es nicht darum, dass Gott etwas „absegnet“, sanktioniert oder gutheißt. Bei der Segensverheißung an Abraham geht es um eine Veränderung, eine Transformation seines ganzen Lebens.

Es beginnt mit einem Abschied. „Geh fort aus deinem Land“, sagt Gott zu Abraham. Ich habe das in der Kirche schon oft zitiert gehört. Meistens als Forderung an die jeweils Anderen, sie mögen ihre alten Gewohnheiten, Traditionen oder Überzeugungen verlassen. Es stimmt sogar, dass das manchmal dringend notwendig ist. Aber nur, wenn sich eine Überzeugung als falsch oder eine Tradition als unangemessen für die Erreichung eines göttlichen Zweckes erweist.

Abraham jedoch soll gar nicht weggehen, weil es Zuhause falsch oder schlecht gewesen wäre. Er soll gehen, weil es richtiger und besser ist, woanders zu sein – dort, wo Gott ihn mehr braucht: in dem versprochenen Land. Und zwar nicht bloß um Abrahams Willen, sondern für die ganze Welt, für „alle Sippen der Erde“.

Ich denke an meine Aufbrüche, meine Abschiede. Auch, um Priester und Malteser zu werden. Und dass ich für die Anderen gesegnet worden und losgegangen bin. Und dass ich an der einen oder anderen Stelle müde und träge geworden bin und mich gewöhnt habe.

Ein altes deutsches Sprichwort sagt: „An Gottes Segen ist alles gelegen“. Das will ich mir in dieser Fastenzeit wieder sagen lassen, dass mir an Gottes Segen liegen soll. Nicht allein in der Liturgie, sondern auch durch Mutter und Vater, durch die Schwestern und Brüder im Glauben, durch betende Hingabe. Und nicht als Bestätigung meines status quo, sondern als Sendung dahin, wo Gott mich mehr braucht.

Wir sollen mit Abraham segnen und „ein Segen sein“. Aber der Segen ist mehr als ich bin, kann mehr als ich kann, sagt und tut mehr, als ich sagen und tun kann.

Wenn ich letzte Woche durch die Stadt ging und die Gesichter der Menschen sah – frohe und traurige, freundliche und missmutige, bemalte und unbemalte – habe ich oft daran gedacht, dass es darum geht: dass ich ihnen mit Gott gut bin.

Und das heißt: sie liebe und segne. Der Segen ist ja das „Plus der Liebe Gottes“ über alles hinaus, was ich selbst tun kann. Dass ich sie als Geliebter liebe und als Gesegneter segne – schon bevor ich sie kenne und ohne vertraut oder einverstanden sein zu müssen mit dem, was sie denken, sagen und tun.

Die Segensverheißung an Abraham beginnt mit einem Abschied. Am Tag nach meiner Priesterweihe verabschiede ich mich von meiner Mutter. Sie küsst mich rechts und links, hebt dann ihre Hand Richtung meiner Stirn, um mir wie immer (und wie ihre Mutter mit dem rauen Daumen) den Segen zu geben. Dann hält sie inne und sagt – halb im Scherz: „Darf ich Dich jetzt eigentlich noch segnen?“

Da wusste ich wieder, dass der „Muttersegen“ – der raue wie der zarte – eine ganz eigene Gnade birgt. Vielleicht auch deshalb, weil Gott uns zuallererst unseren Müttern anvertraut. Weil sie die erste Heimat sind. Und weil vielleicht kein anderer Mensch uns so sehr loslassen und so segnend senden soll, wie sie…

Fra’ Georg Lengerke