Stimmt die Stimme? Joh 10,1-10

Eine der Märchen-Schallplatten, die wir als Kinder hörten, war „Rotkäppchen“ von den Gebrüdern Grimm. Ein Mädchen wird von seiner Mutter mit allerlei Köstlichkeiten zu seiner Großmutter in den Wald geschickt, wohin ihm der böse Wolf durch einen Trick zuvorgekommen war. Der hatte die Großmutter verspeist und sich an ihrer Stelle ins Bett gelegt. Dort angekommen fragt Rotkäppchen verwundert nach der Bedeutung der großen Ohren, Augen und Hände der vermeintlichen Großmutter. Als sie nach dem großen Mund fragt, kommt die gruselige Antwort: „Dass ich dich besser fressen kann!“, was der Wolf dann auch ohne viel Federlesens tut.

Während sich das Rotkäppchen über die ungroßmütterlich großen Körperteile des verkleideten Wolfes wunderte, wunderte ich mich jedes Mal über etwas anderes: nämlich über die Stimme. Der Erzähler mit der Wolfsstimme fing dann großartig an zu fisteln – halt wie ein Wolf, der auf Großmutter macht. Aber es war nie und nimmer die Stimme der Großmutter. Wie bloß konnte Rotkäppchen das nicht merken?

Im Evangelium spricht Jesus von der Stimme des guten Hirten, die den Schafen vertraut ist, aufgrund derer sie ihn erkennen, ihm trauen und ihm folgen. Davon unterscheidet sich die Stimme des Fremden, dem die Schafe nicht folgen, weil sie die Gefahr wittern und sich in Sicherheit bringen.

Mit der Stimme hat es eine besondere Bewandtnis. Sie sagt uns vor allen Worten, wer spricht. Schon ungefähr in der 17. Schwangerschaftswoche beginnt das Kind im Mutterleib die Stimme der Mutter zu hören. Keine Stimme ist uns zunächst vertrauter. Später gibt es vertraute Stimmen anderer geliebter Menschen. Stimmen, die uns gemeint und erreicht, gerufen und angesprochen, uns getröstet oder uns Lebensentscheidendes gesagt haben. Es gibt Stimmen, denen unser Urvertrauen gilt und denen wir uns anvertrauen.

In der Heiligen Schrift hat die Stimme eine besondere Bedeutung. Die großen Glaubenszeugen des Alten Testamentes werden dafür gelobt, auf „die Stimme Gottes“ gehört zu haben. Nicht bloß auf einzelne Worte, sondern auf Seine Stimme, was auch immer sie gesagt hat. Jene Ur-Stimme, von der uns Menschen gesagt wird, dass wir uns ihr unbedingt und vorbehaltslos anvertrauen können.

Wie mag das mit der Stimme Jesu gewesen sein? Es war eine menschliche Stimme mit einer bestimmten Tonlage und einem bestimmten Klang. Aber in ihr wurde zugleich die Stimme Gottes menschlich vernehmbar, auch über die unmittelbaren Worte Jesu hinaus. Jesus sagt uns, was er von Gott dem Vater hört. Aber er spricht auch in der Art und Weise, wie Gott der Vater spricht.

Was bedeutet es nun heute, die Stimme des Guten Hirten zu kennen? Den Menschen, die Jesus gehört haben, sagte seine Stimme, wer da spricht, noch vor jedem Wort. Diese Stimme war ihnen vertraut, sie hatte sie erkannt und gemeint und zu sich gerufen.

Seit der Himmelfahrt Christi jedoch hören wir die irdische Stimme Jesu nicht mehr unmittelbar. Sie ist nur zu einer bestimmen Zeit der Geschichte an einem bestimmen Ort zu hören gewesen. Dafür schenkt uns der Auferstandene immer und überall Sein Wort in der Heiligen Schrift und ist gegenwärtig im Zeugnis, das die Kirche von ihm gibt.

Uns Christen sollte es darum gehen, mit dem Wort und Wesen Jesu, seiner Weise zu denken, zu reden und zu handeln so vertraut zu werden, dass wir nicht nur sein ausdrückliches Wort in der Schrift kennen, sondern auch mit seiner „Stimme“ vertraut werden – also mit seiner Art, mit dem, was ihm gemäß ist, nach ihm klingt, von ihm erzählt.

So werden wir diese Stimme heraushören und unterscheiden lernen in all den Stimmen und Stimmungen, die uns erreichen. Und dann werden wir auch nicht (wie Rotkäppchen) verschlungen werden von dem, was nur so tut, als wäre es Gott.

(Das Rotkäppchen übrigens wird später im Märchen ganz unzerkaut und unverdaut samt Großmutter gerettet. Das freilich wäre ein anderer BetDenkzettel.)

Fra' Georg Lengerke

Rückfall oder Vorsprung Joh 21,1-14

Als Kind und Jugendlichem standen mir Sonntagnachmittage und -abende häufig bevor. Vor allem nach Ferien oder einem schönen Erlebnis. Sonntagnachmittags überkamen mich der Kater und die Sorge, wie der Alltag in solcher Traurigkeit nur zu schaffen sei.

Zurück in den Alltag gehen auch die Jünger nach dem Tod und der Auferstehung Jesu. Petrus beschließt: „Ich gehe fischen.“ Er geht in das zurück, was er kann und worin er sich auskennt. Andere Apostel schließen sich an.

Dieses „Zurück in den Alltag“ kann zweierlei sein: Es kann ein Hinweis darauf sein, dass Christsein bedeutet, in der unaufgeregten Normalität des Alltags im Glauben an den auferstandenen Herrn und in Gemeinschaft mit ihm zu leben.

Aber bei Petrus ist später vom Fischerhandwerk nicht mehr die Rede. Er wird reisen und das erzählen und bezeugen, was die Jünger mit Jesus erlebt haben und was damit Neues von Gott in die Welt gekommen ist.

„Ich gehe fischen“ – kann deshalb auch ein Rückzug in das alte, ehemalige, eigentlich zurückgelassene Leben sein. Eine Art Regression auf vertrautes Terrain, nach dem scheinbar gescheiterten Versuch, ein neues Leben zu beginnen.

Ich kenne diesen resignativen Rückzug auf das Vertraute und Gewohnte. Ich kenne ihn bei mir selbst, bei der Kirche und auch bei meiner Gemeinschaft.

Uns Maltesern geht es ähnlich wie anderen Gemeinschaften in der Kirche. Wir haben vor Jahren einen Prozess der „geistlichen und moralischen Erneuerung“ begonnen. Wir merken, dass eine solche Erneuerung nicht so einfach ist. Sie verlangt Ungewohntes von uns: einerseits die Anknüpfung an Ursprüngliches, andererseits manches Neue. Es gibt Streit um sie.

Das ist häufig der Moment des Rückzugs aufs „Fischen“, auf das, worin die meisten von uns sich gut auskennen: also auf Organisation und Wirtschaftlichkeit, auf den Ausbau unserer Dienste und unserer Relevanz. Wir haben Schönes oder Schmerzliches erlebt, wissen nicht, wie es weitergeht, und sind wieder Fischer, die fischen.

Wo ich in diese Regression zurückfalle, wird mein Leben klein und traurig. Wo wir uns auf das reduzieren, was wir schon immer gut zu können meinten, da wird das Leben der Kirche geschrumpft. Es wird geschrumpft auf unser eigenes oder das Format derjenigen, die zwar die Aufsicht, aber keine Aussicht, die zwar das Sagen, aber nichts zum Sagen haben.

Im Evangelium geschieht der Einbruch in diesen Alltag, als der Auferstandene am Ufer steht. Es beginnt ein Gespräch mit dem Unerkannten. Er lässt die Jünger nach dem erfolglosen Fischzug der Nacht noch einmal das Netz auswerfen. Es ist zum Bersten voll.

Aber nicht Petrus sondern Johannes erkennt Jesus zuerst: „Es ist der Herr!“

Und dann geschieht das Entscheidende: Petrus springt. Für mich ist das eines der schönsten Bilder des Glaubens: im Vertrauen auf den Auferstandenen mich Ihm entgegenzuwerfen, den Sprung zu wagen in die Gelegenheiten bei Ihm, und mit Ihm bei den Anderen zu sein – hinein in die unsterbliche Gemeinschaft mit Ihm.

Solches Springen ist gut gegen die traurige Schrumpfung des Lebens auf das von mir für möglich Gehaltene.

Es ist Ostern. Es ist Zeit, der Regression und Resignation zu widerstehen: indem ich wie die Jünger im Boot mit dem Auferstandenen spreche – auch wenn ich Ihn noch nicht ganz erkannt habe; indem ich tue, was Er sagt – auch wenn ich noch nicht ganz verstanden habe, was das soll; indem ich meiner Schwester oder meinem Bruder glaube, dass der Unbekannte der Herr ist – auch wenn ich Ihn lieber selbst zuerst erkannt hätte;

und schließlich indem ich springe – ohne mich um Boot und Beute, Netze und Leute zu sorgen. Die kommen schon nach.

Und dann wird der Sonntagabend auch nicht mehr traurig sein.

Fra‘ Georg Lengerke

Beziehungsweise Christus Joh 20,19-31

Die Auferstehung Jesu ist für einige Jünger eine schmerzhafte Erfahrung: Die einen begegnen ihm, die anderen nicht. Zehn Jüngern zeigt er sich am Ostermorgen – und einem nicht. Thomas reagiert fast trotzig: Wenn ich ihn nicht sehen und berühren kann wie Ihr, glaube ich nicht.

Dass der Auferstandene sich nach Ostern den einen zeigt und den anderen nicht, hat offenbar Methode. Petrus erzählt in seiner Pfingstpredigt (die am Ostermorgen gelesen wurde) Jesus habe sich nach seiner Auferstehung nicht allen gezeigt, sondern nur "den von Gott vorherbestimmten Zeugen" (Apg 10,41).

Warum zeigt er sich nicht allen? Der Auferstandene erscheint zu Beginn denen, die sich zuvor für ihn entschieden haben. Seine Erscheinungen knüpfen an das an, was sie vorher mit ihm erlebt haben. Er erscheint nicht, um Fremde zu überwältigen. Sondern der Auferstandene will den Weg mit den Zeugen seines irdischen Lebens auf eine verwandelte Weise fortsetzen – und zwar um aller anderen Menschen willen.

Die Auferstehung Jesu Christi verändert nicht bloß die Beziehung seiner Jünger zu ihm, sondern auch deren Beziehung zueinander und zu den anderen Menschen.

Der Auferstandene kommt in die ängstliche Abschottung seiner Jünger, um diese aufzubrechen und seine Zeugen zu bevollmächtigen und zu senden. Schon Im Obergemach durch die Anhauchung und die Gabe des Heiligen Geistes, Sünden vergeben zu können. Und an Pfingsten dann in der universalen Sendung zu allen Menschen.

Und damit verändern sich unsere Beziehungen fundamental: Sie werden gewürdigt, zu einer Weise der Offenbarung Jesu Christi zu werden.

Denn nach Pfingsten werden es die Worte, die Taten und das Leben der von Jesus erreichten Menschen sein, die anderen Menschen von Gott und Jesus Christus erzählen. Das ist im Vergleich zum irdischen Erscheinen Jesu Christi nicht bloß eine Notlösung oder eine Offenbarung zweiter Klasse. Im Gegenteil: Gerade so, gerade in diesen Beziehungen teilt er selbst sich mit.

Ich bin überzeugt, dass Christus in der Welt auf unendlich viele unbegreifliche Weisen gegenwärtig ist und wirkt. Aber der Königsweg der Offenbarung ist das einfache und bescheidene, vollmächtige und starke Zeugnis des eines Menschen für den anderen, durch das Jesus selbst sich mitteilt.

Deshalb besteht der größte Skandal der Kirche unserer Zeit darin, dass das Leben, Reden und Tun der Christen und der Kirche vielfach gar nicht mehr von Jesus Christus erzählt. Wir haben uns mancherorts in der Verleugnung Jesu geradezu eingerichtet. Und die Sünden in der Kirche sprechen Bände davon.

Es ist von Thomas nicht wenig verlangt, der erste zu sein, der allein aufgrund des Wortes der anderen Jünger glauben soll. Aber Jesus bestätigt ihm das Wort der Apostel und der beginnenden Kirche, als Thomas ihn sieht, ihn berührt und ihm glaubt.

Wenn mein Leben sich vollendet, werde auch ich Jesus sehen. Und ich vertraue darauf, dass er auch mir dann bestätigen wird, was ich den Aposteln und der Kirche und meinen Brüdern und Schwestern bis heute geglaubt habe: dass Jesus von den Toten auferstanden und als Auferstandener unter uns gegenwärtig ist.

Und ehrlich, auf dieses Sehen freue ich mich.

Fra' Georg Lengerke

Jesus geht zu Oma (Morgenandacht DLF vom 8. April 2023, Karsamstag)

Heute ist der Karsamstag. Es ist für die Christen der stillste Tag im Jahr. Zumindest bis in den Abend hinein findet kein Gottesdienst statt. Die ganze Kirche gedenkt heute der Grabesruhe Jesu und erwartet seine Auferstehung. Dann ist Ostern.

Das Fest verbringe ich in der Malteserkommende in Ehreshoven bei Köln. Ungefähr 60 Gäste, dazu Freunde und Nachbarn, feiern hier zusammen das Osterfest. Darunter auch viele Familien mit Kindern.

Wie jedes Jahr vollziehen wir heute Vormittag nochmal die Grablegung Jesu nach. Dazu haben wir in der Kirche vor den Altar eine Trage gestellt. Zusammen mit den Kindern lege ich alle Gegenstände, die uns an das Leiden und Sterben Jesu erinnern, auf diese Trage. Ein weißes Gewand, eine Dornenkrone, drei schwere Nägel, ein Schwamm und ein Speer und fünf rote Glassteinchen, die an die Wunden Jesu erinnern. Dabei erzählen die Kinder noch einmal die Leidensgeschichte nach, die wir am gestrigen Karfreitag erzählt und gefeiert haben.

Zum Schluss nehmen wir die rote Stola vom Kreuz, die dort seit gestern hängt. Und wir legen sie so auf die Trage, als läge dort einer, der sie trägt. Die Kinder vollziehen das immer mit großer Zärtlichkeit und Feierlichkeit.

Wenn alles auf der Trage liegt, tragen sechs Kinder – zwei vorne, zwei hinten und zwei in der Mitte – die Trage mit der kleinen Anordnung der Erinnerungsstücke vom Hof und hinüber in einen benachbarten Schlossgarten. Der vielleicht 200 Meter lange Weg ist immer sehr andächtig. Wir singen einige Lieder, die sonst auch bei Beerdigungen gesungen werden, wie: „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh‘“ oder „Das Weizenkorn muss sterben, sonst bleibt es ja allein“.

Am Ende des Weges ist ein alter Eiskeller, der in eine Felswand gehauen ist. Früher legte man dort im Winter große Eisstücke hinein, die bis zum Herbst dort die Kühlung von Speisen ermöglichten. Davor stellen wir die Trage ab und beten für die Lebenden, die Sterbenden und die Verstorbenen. Dann schieben wir die Trage mit allem, was uns an Jesus erinnert, in die Felsnische. Am Schluss rollen zwei der Männer einen schweren Mühlstein vor unser kleines Eiskeller-Grab.

Immer wieder kommt es vor, dass Teilnehmer bei der Grablegung sehr bewegt sind, weil sie an ihre verstorbenen Nächsten denken. Ich erinnere mich, was mich in einem Jahr bewegt hat: Wir hatten die Trage gerade vor dem Eiskeller abgestellt. Ein dreijähriges Mädchen, deren Großmutter kürzlich gestorben war, schaute zu mir herauf und sagte zu mir: „Jesus geht zu Oma.“

Damit hatte das Kind in vier Worten alles gesagt, was diesen stillen Tag so groß und heilig macht. Am Karsamstag feiert die Kirche schweigend, was sie im Glaubensbekenntnis mit dem Satz verkündet: Jesus sei „hinabgestiegen in das Reich des Todes“.

Auch heute, wenn wir nachher wieder mit den Kindern in unserer kleinen Prozession zum Eiskeller ziehen, werde ich an diese vier Worte denken: „Jesus geht zu Oma“. Und ich werde diesen Satz still immer wieder sagen – von meinen Großeltern und Vorfahren, von meinem vor der Geburt gestorbenen Geschwisterchen, von gestorbenen Freunden und Verwandten, von den von mir Beerdigten, von den im Krieg und im Erdbeben Getöteten und den mitten unter uns ums Leben Gekommenen.

Gott steigt als Mensch in den Tod hinab, damit die Toten ins Leben kommen.

Morgen früh werden wir uns vor Sonnenaufgang hier vor der Graböffnung an einem kleinen Feuer wieder treffen. Der Stein wird beiseite gerollt sein und das Grab ist leer, und wir werden hören und feiern, dass einer zu den Toten und zu uns Lebenden das neue Leben getragen hat. Ein Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat.

Fra‘ Georg Lengerke

Der Gekreuzigte, die Opfer und die Täter (Karfreitag, Jes 52,13-53,12)

Eine Hospizhelferin erzählte neulich von einer Frau, die sie auf ihrem Sterbeweg begleitete. Die alte Dame hatte viel Schweres erlebt, aber nicht viel über ihren Glauben gesagt. Bei einem ihrer letzten Besuche habe die Patientin schon kaum mehr etwas sagen können. Kurz bevor die Besucherin ging, drehte sie den Kopf zur Seite, wo ein einfaches Kreuz mit dem Gekreuzigten hing. Sie schaute ihn an und sagte leise: „So lieb!“

Bald darauf starb sie. Sie hatte eine Nähe und Liebe des Gekreuzigten wahrgenommen, an die ich seitdem oft denken muss. Was brächte mich dazu, angesichts des Gekreuzigten zu sagen: So lieb!?

Das Erste ist: Jesus erleidet das Leiden, das ich erleide. Jeden Freitagnachmittag um 15 Uhr läutet mein Mobiltelefon. Auf dem Display steht: „Du stirbst meinen Tod.“ Jesus hat sich in seinem Leben, Leiden und Sterben mit mir verbunden. „Er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“, sagt der Prophet Jesaja (Jes 53,4). Er trägt, was ich trage, ihn drückt, was mich drückt, er erleidet, was ich erleide, und er stirbt meinen Tod. Damit ich mit ihm lebe. Schon hier und jetzt. Und einmal jenseits des Todes.

Das Zweite ist: Das zuerst Gesagte gilt auch von meinen Nächsten. Und die haben auch an mir gelitten. Jesus erleidet mit ihnen das Leiden, das ich verursache. Was ich ihnen tue, empfindet auch er. Nicht nur das monströse Böse aus der Presse. Sondern jede Unaufrichtigkeit, jedes böse Wort, jeden bösen Gedanken.

Der Gekreuzigte konfrontiert mich mit meinem Unrecht. Er vertuscht nichts und schont mich nicht. Aber zugleich bleibt er der Liebende, der meine Reue, meine Buße und meine Versöhnung und mich aufs Neue bei sich haben will.

Und das Dritte schließlich: Jesus erleidet, was ich mir selbst antue. Was ich anderen tue, geht auch an meiner Seele ja nicht spurlos vorüber. Was, wenn ich alles das auch selbst erleiden würde, was ich je anderen Menschen „Gutes unterlassen und Böses getan habe, in Gedanken, Worten und Werken“? Ich wäre dem Gekreuzigten- oder besser: er wäre mir sehr ähnlich. „Er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt.“ sagt Jesaja (53,5)

Es ist bei dem Schmerz, der gerade durch die Kirche geht, unendlich schwer geworden, anzunehmen, dass Jesus gekommen ist, um die Sünder zu retten. Solche wie mich. Und solche, die Schlimmeres getan haben.

Vielleicht tun wir uns damit auch deshalb so schwer, weil in der Kirche falsche Rücksichten, die Aufrechterhaltung des Scheins und der Schutz der Institution so viel Unheil angerichtet haben. Wo von Erlösung und Versöhnung gesprochen wird, wächst die Angst und der Verdacht, Täter könnten wieder gedeckt, verschont und verschoben werden und so einfach ungeschoren davonkommen.

Und das darf nicht sein. Der Gerechtigkeit muss genüge getan, jeder Täter bestraft und an Wiederholungen wirksam gehindert werden.

In Therapie und Seelsorge geht es zugleich darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Opfer wurden. Und einen Weg aus der Opferrolle zu finden. Und es geht darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Täter wurden. Und einen Weg aus der Schuld und aus der Sünde zu finden.

Heute feiert die Kirche, dass Jesus, der schuldlose Mensch, genau dahin geht: an die Stelle des Opfers und an die Stelle des Täters. Damit wir mit ihm wieder zueinander und zu unserem wahren Selbst finden.

Deshalb dürfen wir uns selbst oder einander nicht an unserem Opfersein oder Tätersein festhalten. Sonst erreicht uns nicht, was Jesus am Karfreitag tut: Dass er sich dorthin begibt, wo wir und alle Opfer leiden, um unserer Heilung willen. Und dass er sich dorthin begibt, wohin wir und alle Täter sich gebracht haben, um unserer Verzeihung willen.

Wo wir das annehmen, da mag auch unser letztes Bekenntnis sein: So lieb!

Fra‘ Georg Lengerke