Eine der Märchen-Schallplatten, die wir als Kinder hörten, war „Rotkäppchen“ von den Gebrüdern Grimm. Ein Mädchen wird von seiner Mutter mit allerlei Köstlichkeiten zu seiner Großmutter in den Wald geschickt, wohin ihm der böse Wolf durch einen Trick zuvorgekommen war. Der hatte die Großmutter verspeist und sich an ihrer Stelle ins Bett gelegt. Dort angekommen fragt Rotkäppchen verwundert nach der Bedeutung der großen Ohren, Augen und Hände der vermeintlichen Großmutter. Als sie nach dem großen Mund fragt, kommt die gruselige Antwort: „Dass ich dich besser fressen kann!“, was der Wolf dann auch ohne viel Federlesens tut.
Während sich das Rotkäppchen über die ungroßmütterlich großen Körperteile des verkleideten Wolfes wunderte, wunderte ich mich jedes Mal über etwas anderes: nämlich über die Stimme. Der Erzähler mit der Wolfsstimme fing dann großartig an zu fisteln – halt wie ein Wolf, der auf Großmutter macht. Aber es war nie und nimmer die Stimme der Großmutter. Wie bloß konnte Rotkäppchen das nicht merken?
Im Evangelium spricht Jesus von der Stimme des guten Hirten, die den Schafen vertraut ist, aufgrund derer sie ihn erkennen, ihm trauen und ihm folgen. Davon unterscheidet sich die Stimme des Fremden, dem die Schafe nicht folgen, weil sie die Gefahr wittern und sich in Sicherheit bringen.
Mit der Stimme hat es eine besondere Bewandtnis. Sie sagt uns vor allen Worten, wer spricht. Schon ungefähr in der 17. Schwangerschaftswoche beginnt das Kind im Mutterleib die Stimme der Mutter zu hören. Keine Stimme ist uns zunächst vertrauter. Später gibt es vertraute Stimmen anderer geliebter Menschen. Stimmen, die uns gemeint und erreicht, gerufen und angesprochen, uns getröstet oder uns Lebensentscheidendes gesagt haben. Es gibt Stimmen, denen unser Urvertrauen gilt und denen wir uns anvertrauen.
In der Heiligen Schrift hat die Stimme eine besondere Bedeutung. Die großen Glaubenszeugen des Alten Testamentes werden dafür gelobt, auf „die Stimme Gottes“ gehört zu haben. Nicht bloß auf einzelne Worte, sondern auf Seine Stimme, was auch immer sie gesagt hat. Jene Ur-Stimme, von der uns Menschen gesagt wird, dass wir uns ihr unbedingt und vorbehaltslos anvertrauen können.
Wie mag das mit der Stimme Jesu gewesen sein? Es war eine menschliche Stimme mit einer bestimmten Tonlage und einem bestimmten Klang. Aber in ihr wurde zugleich die Stimme Gottes menschlich vernehmbar, auch über die unmittelbaren Worte Jesu hinaus. Jesus sagt uns, was er von Gott dem Vater hört. Aber er spricht auch in der Art und Weise, wie Gott der Vater spricht.
Was bedeutet es nun heute, die Stimme des Guten Hirten zu kennen? Den Menschen, die Jesus gehört haben, sagte seine Stimme, wer da spricht, noch vor jedem Wort. Diese Stimme war ihnen vertraut, sie hatte sie erkannt und gemeint und zu sich gerufen.
Seit der Himmelfahrt Christi jedoch hören wir die irdische Stimme Jesu nicht mehr unmittelbar. Sie ist nur zu einer bestimmen Zeit der Geschichte an einem bestimmen Ort zu hören gewesen. Dafür schenkt uns der Auferstandene immer und überall Sein Wort in der Heiligen Schrift und ist gegenwärtig im Zeugnis, das die Kirche von ihm gibt.
Uns Christen sollte es darum gehen, mit dem Wort und Wesen Jesu, seiner Weise zu denken, zu reden und zu handeln so vertraut zu werden, dass wir nicht nur sein ausdrückliches Wort in der Schrift kennen, sondern auch mit seiner „Stimme“ vertraut werden – also mit seiner Art, mit dem, was ihm gemäß ist, nach ihm klingt, von ihm erzählt.
So werden wir diese Stimme heraushören und unterscheiden lernen in all den Stimmen und Stimmungen, die uns erreichen. Und dann werden wir auch nicht (wie Rotkäppchen) verschlungen werden von dem, was nur so tut, als wäre es Gott.
(Das Rotkäppchen übrigens wird später im Märchen ganz unzerkaut und unverdaut samt Großmutter gerettet. Das freilich wäre ein anderer BetDenkzettel.)
Fra' Georg Lengerke