Bitte um ein Nachtwort Mt 10,26–33

Es wurde noch nie so viel geredet wie heute. Und noch nie war die Herausforderung so groß, herauszufinden und zu lernen, wie mit dieser ständig anwachsenden Flut von Worten umzugehen sei.

Für mich ist das eine tägliche Frage. Sowohl bei dem, was ich lese, höre und sehe. Als auch für das, was ich sage und schreibe.

„Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet im Licht, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet auf den Dächern“, sagt Jesus.

Die Christen könnten also meinen, es ginge vor allem darum, die Scheinwerfer und die Bühnen zu suchen, um zu reden und zu verkünden… Ja, aber was eigentlich?

Den ersten Jüngern wird gesagt, sie sollten das nahe gekommene „Himmelreich“, „das Evangelium“, „die Umkehr“ und „die Vergebung der Sünden“ verkünden.

Das sollen sie zum einen durch ihre Lebensweise tun und insbesondere durch ihr Dasein für ihre Nächsten. Zum anderen, indem sie den Menschen von Gott erzählen und sie mit Jesus Christus, mit seinem Wort und Wirken und mit der Geschichte Gottes mit seinem Volk von Adam bis heute bekannt machen.

Aber indem ich das schreibe, merke ich, dass das noch nicht alles ist. Dass etwas nicht stimmt, wenn die Kirche einfach nur mitredet und mit ihren – oft nicht mehr verstandenen – Worten (oder mit dem, was ohnehin schon von allen anderen gesagt worden ist) die Wortflut noch mehrt.

Die Christen sollen im Licht von dem reden, was Jesus ihnen „im Dunkeln“ sagt, und auf den Dächern verkünden, was ihnen „ins Ohr geflüstert“ wurde.

Was sagt Jesus denn „im Dunkeln“? Und was wird uns von ihm zugeflüstert?

Gestern hat die Kirche das Geburtsfest Johannes des Täufers gefeiert. Das ist für mich aus zwei Gründen ein besonderes Fest. Zum einen ist es das Patronatsfest der Malteser. Zum anderen ist es der Tag, an dem ich vor 23 Jahren zum Priester geweiht wurde. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich besonders hellhörig bin an diesem Tag.

Jedenfalls muss ich heute daran denken, dass in den Texten dieses Hochfestes mehrmals von einer Vorbereitungszeit in der Stille gesprochen wird.

Zacharias, der Vater des Täufers Johannes, erlebt eine Zeit der Stille, um die Sprache wiederzufinden. Nachdem er die Nachricht von der bevorstehenden Geburt eines Sohnes nicht glaubt, verstummt er für neun Monate – bis das Kind geboren ist. Außerdem scheint er in dieser Zeit auch taub gewesen zu sein, weshalb die Angehörigen ihn zuletzt „durch Zeichen“ fragen, welchen Namen das Kind bekommen soll.

Und von Johannes wird erzählt, er sei schon früh in die Stille der Wüste gegangen, bis das entscheidende Wort ihn findet und trifft. Er bleibt dort „bis zu dem Tag, an dem er seinen Auftrag für Israel erhielt“.

Je gewaltiger die Flut an Worten ist, die über uns hereinbricht, und je trunkener die Menschen von dem Wortrauschen werden, umso mehr ist es an der Zeit, dass Menschen auf das Wort Jesu im Dunkeln hören. Im Dunkel der Ungewissheit und der Angst, im Dunkel der zerbrochenen Beziehungen und Gewissheiten. Je lauter geredet wird, um so wichtiger ist es, still zu werden, um im Dauergerede das geflüsterte Wort von Gott zu vernehmen, auf das es ankommt.

Das Hören im Dunkel braucht Geduld. Das deutsche Wort Geduld und die lateinische patientia haben mit leidvollem Ertragen zu tun. Und das fällt schwer.

Viele Menschen sehnen sich danach, dass Gott ein Machtwort spricht, dass sich mit einem Schlag die Dinge klären oder wenden. Am besten im Sinn des eigenen Lagers und der eigenen Partei.

Ich bitte darum, dass Gott ein Nachtwort spricht. Und dass Menschen da sind, die nächtens wachen und in der Stille das geflüsterte Wort hören, das von seiner Liebe erzählt, die Geduld hat mit uns.

Und wenn der Wortnebel sich legt und ein neuer Morgen anbricht, wird das Gehörte weitergesagt und gerufen und gesungen werden können im Licht und von den Dächern um die Marktplätze der Welt.

Fra' Georg Lengerke

Die Ökumene der Gesehenen Mt 9,36-10,8

„Mami, ich bin müde”, sagte die dreijährige Tochter von Freunden neulich, “ich will ausruhen”. Sprach’s und wurde von ihrer Mami auf eine Kuscheldecke in ihrem Zimmer gelegt, wo sie bald schlummerte.

Das fand ich bemerkenswert. Anderen Kindern fällt es schwer, zuzugeben, dass sie müde sind. Sie werden erst überdreht, dann knatschig und schließlich gibt’s Tränen.

Mir sagte jemand, das komme davon, dass Eltern ihre Kinder zur Strafe ins Bett schicken. Schlafengehen sollen ist dann Ausschluss vom Leben. Wachbleiben wird zur Überlebensfrage.

Das ist nicht nur bei Kindern so. Vielen Menschen fällt es ein Leben lang schwer, zuzugeben, dass sie müde und erschöpft sind. Vor allem dort, wo sie sich über das definieren, was sie tun, wem sie nützen und was sie bewirken. Dann ist phasenweise Erschöpfung nicht einfach ein normaler und gesunder Vorgang, sondern ein Zeichen der Schwäche, des Versagens und des drohenden Entzugs der Teilhabe am Leben.

Vielleicht hören deshalb viele Christen im Evangelium als erstes eher, was sie tun sollen, als was sie sich gefallen lassen dürfen; eher was sie geben sollen, als was sie empfangen dürfen; eher was sie sagen sollen, als was sie hören dürfen.

Bevor ich mich also als erstes gleich neben die Apostel stelle, die Ärmel hochkremple und mich als Arbeiter in die Ernte schicken lasse, möchte ich mit Euch einen Augenblick innehalten. – Denn vielleicht gehöre ich ja zunächst zu denen, die Jesus ansieht und „im Innersten erschüttert“ ist, weil sie so müde und erschöpft sind.

Stellen wir uns vor, Jesus würde uns fragen, was uns in der Kirche müde und erschöpft sein lässt? Was würdet Ihr antworten?

Dass Ihr der Vertuschung von Schuld, der Verhärtung der Herzen und des Streits in der Kirche müde seid? Oder dass Ihr nur die viele Arbeit, aber nicht die große Ernte sehen könnt?

Ich fürchte, wenn wir in der Kirche nicht zugeben, dass wir müde und erschöpft sind, dann geht es uns wie den Kindern: Wir werden erst überdreht, dann knatschig und schließlich gibt’s Tränen.

Jesus sagt hier nichts zum Umgang mit Müdigkeit und Erschöpfung. Er ruft seine Jünger zu sich. Jeden einzeln. Jeden bei seinem Namen.

Ich stelle mir manchmal die Apostel vor, wie sie da stehen, bei ihrem Namen gerufen, mit ihrer je eigenen Geschichte, mit ihrem je eigenen Gesicht.

Wie werden die Gesichter der Apostel an jenem Nachmittag ausgesehen haben? Einige von ihnen werden auch zu den Müden und Erschöpften gehört haben. Auch ihr Gesicht ist ein Gesicht der Kirche in der Welt.

„Kirche“ kommt von griechisch „Kyriake“ – die dem Herrn Gehörende. „Ihr werdet mein besonderes Eigentum sein“, sagt Gott beim Bundesschluss mit seinem Volk im Buch Exodus (Ex 19,5, 1. Lesung). Nicht im Gegensatz zur Welt. Nein, die ganze Erde gehört mir, sagt Gott zu Mose, „ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“ Die ganze Welt gehört mir, aber ihr hört mich. Die ganze Welt gehört mir, aber ihr hört mir zu.

„Mami, ich bin müde!“ Vielleicht ist es an der Zeit, mit Jesus zu reden, wie das Mädchen mit seiner Mami. Vielleicht ist es an der Zeit, Gott unsere Erschöpfung zu bringen. Vielleicht ist das der Konsens, zu dem wir finden sollen: Eine Ökumene der gesehenen Erschöpften, die sagt: „Herr, wir sind müde.“ Und die ihm wieder neu gehören, ihn hören, und ihm zuhören will.

Und wenn wir ihm lange zugehört haben, dann werden wir auch unsere Namen und die Namen unserer Brüder und Schwestern hören, wenn er sie ruft. Wir werden einander hören und zueinander finden.

Wenn wir ihm gehören und ihn hören, werden wir herausgerufen aus der Erschöpfung und der Müdigkeit. Wir werden nicht nur die viele Arbeit, sondern Seine große Ernte sehen. Und wir werden miteinander aufs Neue losgehen in Seiner Kraft und Seinem Namen und die Menschen lieben, wie er sie liebt.

Fra’ Georg Lengerke

Corpus Toni – Predigt an Fronleichnam in Heilig Geist, München

In den Feriencamps der Malteser mit geistig und körperlich schwerstbehinderten Menschen im Libanon feiern wir täglich die Heilige Messe. Vieles ist dabei anders. Der Unruhepegel ist meist höher als sonst. Es kann zu lautstarken Äußerungen von Gefühlen oder Bedürfnissen, von Freude oder Unmut kommen, die wir zu verstehen und auf die wir zu reagieren versuchen.

Wer das erste Mal dabei ist, wird vieles von dem, was dort im Gottesdienst geschieht, zunächst als störend empfinden. Entweder, weil ihm solche Äußerungen fremd und unverständlich sind, oder weil für ihn das Dasein füreinander und das Gebet derart verschiedene Sphären sind, dass das eine immer als Störung des anderen wahrgenommen wird.

Dabei hat das unverstellte Empfinden von Glück und Leid und das Vertrauen vieler der behinderten Freude – wenn man es einmal entziffern, begleiten und mitvollziehen gelernt hat – bereits vielen Volontären geholfen, besser zu verstehen, was wir in der Liturgie tun und von Gott empfangen. Auch mir.

Einmal – wir hatten die Lesungen gelesen und Fürbitte gehalten, die Gaben von Brot und Wein zum Altar gebracht und den Lobgesang der Engel (das „Heilig, heilig, heilig“) gesungen – trat während des Hochgebets Toni an den Altar.

Normalerweise haben wir eine 1:1 Begleitung, damit keiner sich selbst oder sein Umfeld in Gefahr bringt oder spektakuläre Verwüstungen anrichtet. Die wiederum wären in der Liturgie wirklich störend gewesen.

Toni war seiner Begleitung offenbar entwischt. Aber das beunruhigte mich nicht. Toni verwüstete in der Regel nichts. Im Gegenteil. Toni hat Trisomie. Je nach Stimmung ist er liebenswürdig, kann bis zur Verzweiflung seiner Begleiter dickköpfig und gerne auch etwas theatralisch sein. Er liebte die Liturgie, saß unweit des Altars am Rand und half den Ministranten bei ihrem Dienst.

Ich hatte mit dem Eucharistischen Hochgebet schon begonnen, als ich Toni neben mir an den Altar treten sah. Er legte seine Hände übereinander auf den Altar und beugte sich nach vorne, bis sein Stirn auf den Handrücken und seine Brust auf dem Altar zu liegen kam…

Ich hörte ein leises Raunen. Aber keiner unternahm etwas. Nach einer Schrecksekunde erkannte ich, dass auch ich nichts machen konnte. Jede disziplinarische Maßnahme meinerseits hätte mehr zerstört als wiederhergestellt. Und so betete ich weiter und kam zu den Einsetzungsworten, in denen der Herr vom Brot sagt: „das ist mein Leib“ und vom Wein „das ist mein Blut“.

Da erinnerte mich an etwas, was ich in einer Heiligen Messe gesehen hatte, die nach dem Messbuch von 1962 gefeiert wurde. Dabei lehnte sich der Priester bei den Einsetzungsworten so weit nach vorne, dass es schien, als würde er sich mit den Gaben von Brot und Wein auf den Altar legen.

Toni tat genau das. Es schien, als legte er sich mit den Gaben von Brot und Wein auf den Altar. So, als würde Jesus auch von seinem Leib sagen: „Das ist mein Leib“, so, als würden der Corpus Toni und der Corpus Christi eins.

Ich musste an die Gabengebete denken, in denen wir darum bitten, Gott möge mit den Gaben von Brot und Wein auch uns annehmen, damit mit den Gaben von Brot und Wein auch die Welt verwandelt wird.

Diese Verwandlung beginnt mit der Eucharistie. Und sie geht weiter mit denen, die eucharistisch zu Christus gehören. Paulus nennt nicht nur die Eucharistie, sondern auch die Kirche „Leib Christi“ (1 Kor 12,27; Eph 4,12). Toni erinnert mich bis heute daran, dass ich mit den Gaben von Brot und Wein mich selbst und alle Menschen zum Altar und vor Gott bringen soll, damit wir – wie es der heilige Augustinus einmal gesagt hat – durch das Wort und die Hingabe Jesu Christi „empfangen, was wir sind – der Leib Christi, und werden, was wir empfangen – der Leib Christi“.

Dann geht Fronleichnam weiter. Wenngleich stiller und bescheidener: Wir gehen mit Christus. Und Christus geht mit uns.

Fra' Georg Lengerke

An Gottes Leben teilnehmen – Dreifaltigkeitssonntag

Die sogenannte „Prärie“ ist eine Parklandschaft am französischen Fluss Gave im Wallfahrtsort Lourdes am Fuße der Pyrenäen. Gegenüber liegt die Grotte von Massabielle, von der das Mädchen Bernadette Soubirous 1858 berichtete, eine Dame von außergewöhnlicher Schönheit sei ihr dort begegnet, die sich später als die Gottesmutter Maria erwies.

Auf einer der Bänke auf der Prärie führe ich in der vergangenen Woche ein langes Gespräch mit A., einem Mann von vielleicht Mitte vierzig, über dessen Leben sich ein Buch schreiben ließe: Eine Kindheit als belächelter oder malträtierter Außenseiter, ein schulisches Martyrium, Gelegenheitsarbeiten, der Versuch, das Abitur zu machen und Theologie zu studieren. Mit 30 der erste Schlaganfall. Nach der Reha wird aus einem dreiwöchigen Asien-Urlaub ein siebenjähriger Aufenthalt, nach der Rückkehr ein zweiter Schlaganfall, seitdem sitzt er im Rollstuhl…

Er erzählt nüchtern von seinem Weg, von viel Leid und etwas Glück, von seiner Ferne und seiner Nähe zu Gott, von seiner Sehnsucht und von konkreten Misslichkeiten dieser Tage. Und er spricht gut von den Menschen – auch von denen, die ihm weh getan haben. An dieses Gespräch denke ich am heutigen Dreifaltigkeitssonntag.

In der Oration dieses Tages heißt es, Gott habe Sein Wort und Seinen Geist „in die Welt gesandt, um uns das Geheimnis des Göttlichen Lebens zu offenbaren“.

Diese Offenbarung ist mehr als eine Information zwecks Weitergabe. Sie ist eine Gabe, die das Leben derer, die sie annehmen, grundlegend verändern kann. Sie ist nicht nur Information, sondern Formation (Benedikt XVI.).

Was heißt das, ein Christ zu sein? Wenn ich zurückschaue, vertieft sich die Antwort von einer Lebensphase zur nächsten – wie übrigens auch im Jahreskreis der Liturgie.

Christsein heißt Annahme und Angenommenwerden, sagt mir das Weihnachtsfest. Gott wird Mensch, in dem der Vater den Sohn sendet, der sich mit unserem Leib und Leben verbindet – „in allem uns gleich außer der Sünde“ (IV. Hochgebet).

Christsein heißt Nachfolge, sagt der Alltag der Jünger Jesu bis heute. Dabei werden wir mit Ihm immer vertrauter und Seine Freunde werden und so Anteil an Seinem Leben, an Seinem Willen und an Seiner Liebe zu den Menschen bekommen.

Christsein heißt Leben mit dem Auferstandenen, heißt es an Ostern. Er lässt sich alles antun, was wir einander antun, um die Welt von innen her zu erlösen. Im Hass bleibt Er die personifizierte Liebe Gottes bis in den Tod – und führt die todverfallene Welt durch den Tod ins Leben.

Christsein heißt Sendung, haben wir an Pfingsten gefeiert. Das Volk Gottes wird in der Kraft, Vollmacht und Verstehbarkeit des Heiligen Geistes in die ganze Welt gesandt als ein Volk aus allen Völkern, das allen Menschen die Liebe Christi erweist und bezeugt.

Im Vergleich dazu ist der Dreifaltigkeitssonntag ein eher leises Fest. Im Gespräch mit A. auf der Prärie werde ich daran erinnert, dass Christsein auch bedeutet, sich hineinnehmen zu lassen in die dreifaltige Liebe, die in die Welt gekommen ist.

A. und ich sind zwei, die im Namen Jesu versammelt sind. Von denen sagt Jesus, Er sei unter ihnen gegenwärtig. A. ist mein Nächster, für den Christus gestorben ist und mit dem Er sich unwiderruflich und „auf Verderb und Gedeih“ (!) verbunden hat. Die Schrift sagt mir, dass ich diese Erkenntnis nicht aus mir habe, sondern durch den Heiligen Geist, der in mir wohnt und mich Christus und den Bruder erkennen und lieben lässt.

Gegenüber, am anderen Ufer des Gave, hat eine „schöne Dame“ einem Mädchen gesagt, dass sie die „unbefleckte Empfängnis“ sei, in der der Sohn Gottes ein Mensch geworden ist. Hier auf der Prärie sitzen zwei versehrte und von Gott gewürdigte Männer, denen der Heilige Geist die Gegenwart des Menschgewordenen im jeweils Anderen offenbart, damit wir miteinander den Weg finden zu Gott dem Vater, der der Ursprung, der Erhalter und das Ziel von allem ist.

Fra' Georg Lengerke

Lass uns bei Dir sein (Mk 10,32-45)
Predigt an der Grotte von Massabielle, Lourdes, am 31. Mai 2023

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

so hatten wir uns das nicht gedacht! Gerade noch haben wir an Pfingsten mit den zwölf Aposteln und Maria einmütig im Obergemach auf das Kommen des Geistes gewartet. Gerade noch haben wir gefeiert, dass der Geist Gottes auf die Jünger herabkommt, sodass sie in der Kraft Gottes in alle Welt gehen, um von ihm zu erzählen und in seinem Namen zu wirken. Und heute, nur drei Tage später, wird uns gesagt: Die Jünger waren „sehr ärgerlich“ übereinander. Willkommen im Alltag!

Wir wollen über den Ärger der Jünger nicht einfach hinweggehen. Vielleicht – wer weiß? – ist es ja auch unser Ärger.

„Lass in Deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den anderen links neben Dir sitzen!“, hatten die beiden Söhne des Zebedäus Jesus gebeten. Was mag die Jünger daran bloß geärgert haben? Was ist falsch daran, darum zu bitten bei Jesus zu sein?

Vielleicht hat sie geärgert, dass Jakobus und Johannes sie überholen wollten und einem Platz vor ihnen beanspruchten, vielleicht sogar auf ihre Kosten. Vielleicht hat sie auch geärgert, dass es den beiden Brüdern möglicherweise um irdische Macht an der Seite Jesu geht – vielleicht sogar um Macht über die anderen Apostel. Vielleicht hat sie auch einfach nur geärgert, dass sie nicht selbst auf den Gedanken gekommen sind, früh genug um einen Platz an der Seite Jesu in seiner Herrlichkeit zu bitten …

Jesus weist die beiden Brüder nicht einfach zurecht. Und als die zehn übrigen Apostel sich über die beiden ärgern, geht Jesus darüber nicht einfach hinweg. Er ruft die Jünger zusammen. Dass sie sich ärgern, ist eine gute Gelegenheit, etwas Entscheidendes zu lernen.

Und ich schlage vor, liebe Brüder und Schwestern, dass wir mit ihnen lernen.

„Lass uns in Deiner Herrlichkeit bei Dir sein!“, bitten die beiden Jünger. Was ist falsch an dieser Bitte? Sollen wir denn nicht darum bitten, bei Jesus zu sein? Doch. Unbedingt. Gerade hier in Lourdes tun wir das ja auch. Nicht die Bitte ist falsch. Falsch ist die Vorstellung der Jünger davon, was es bedeutet, bei Jesus in seiner Herrlichkeit zu sein. Und diese Vorstellung wird von Jesus korrigiert.

1. Die erste Korrektur besteht darin, dass wir über das Ziel den Weg nicht vergessen sollen und über den Weg das Ziel nicht aus dem Auge verlieren dürfen.

    Jakobus und Johannes wollen bei Jesus in seiner Herrlichkeit sein. Aber sie vergessen darüber den Weg dahin. Sie wollen im Himmel sein und vergessen darüber die Erde. Dabei hatte Jesus gerade noch von seinem Leidensweg gesprochen. Davon, dass er eingetaucht wird in den Streit und den Hass der Welt und dass er den Kelch des Leidens der Welt trinken wird. „Könnt auch Ihr eingetaucht werden und den Kelch trinken?“, fragt Jesus die Jünger.

    Hier in Lourdes lernen wir voneinander, den mühsamen Weg des Alltags geduldig und tapfer zu gehen. Schritt um Schritt. Vor Jahren sagte mir hier ein Mann, der wegen einer schweren Nervenkrankheit nur sehr schwer gehen konnte: „Jeder Schritt ist ein kleiner Sieg!“

    Und auch in das andere Extrem sollen wir nicht verfallen: dass wir über den Weg das Ziel aus dem Auge verlieren und über die Erde den Himmel vergessen. Das geschieht in der Kirche gerade häufig, dass wir über die Geschäftigkeit des Alltags, über die Lebenswirklichkeit der Menschen und die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche vergessen, worum es im letzten eigentlich geht, nämlich dass wir schon hier und jetzt bei Jesus sind und durch ihn einmal miteinander in den Himmel kommen.

    2. Die zweite Korrektur betrifft die Vorstellung der Jünger, bei Jesus zu sein bedeute, von ihm weltliche Macht verliehen zu bekommen.

    Damals dachten die Jünger, Jesus würde in Jerusalem ein neues irdisches Reich der Gerechtigkeit und der Liebe errichten. Und sie würden in diesem Reich als Minister des Königs Anteil an seiner Regierung bekommen.

    Ähnliche Vorstellungen gibt es seitdem in der Kirche bis heute: wenn wir zu Jesus gehören, so glauben viele, dann müssen wir möglichst viel Einfluss und Macht haben, um die Werte Jesu auch gesellschaftlich und politisch verwirklichen zu können. Wir Christen und die Kirche müssten mächtig sein, um das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen.

    Jesus hat das kommen sehen. Schaut Euch an, wie es läuft, sagt Jesus den Aposteln: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen.“ Seit Jahrhunderten machen wir die Erfahrung: Sobald wir uns in der Kirche den Methoden irdischer Macht bedienen, läuft es bei uns genau so schief wie bei den Mächtigen dieser Welt.

    „Bei Euch aber soll es nicht so sein“, sagt Jesus, „sondern wer bei Euch groß sein will, der soll Euer Diener sein, und wer bei Euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“

    Viele von uns – auch ich – haben das hier in Lourdes wie sonst nirgends gelernt: füreinander da zu sein und einander zu dienen. In der tätigen Hilfe und Pflege, im guten Rat, im Aushalten des Unabänderlichen, im Zeugnis eines tapferen Lebens, in der Bereitschaft, sich helfen zu lassen, und auch im Ertragen derer, die sich beim Helfen noch etwas dumm anstellen…

    Wo wir einander dienen, werden alle groß – die Bedienten und die Diener. Die, die wir im Dienst groß sein lassen und die, die im Dienen wachsen.

    3. Und die dritte Korrektur schließlich besteht darin, dass wir erkennen: Wir kommen nicht als erstes zu Jesus; als erstes kommt Jesus zu uns. Zuerst sind nicht wir bei Jesus; zuerst ist Jesus bei uns.

    „Auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“, sagt Jesus den Jüngern. Als der Sohn Gottes in Maria Mensch geworden ist, da ist er in das Leben eines jeden Menschen eingetreten. Noch bevor wir von ihm gehört und an ihn geglaubt haben.

    Gerade hier in Lourdes dürfen wir dieses Geschenk erkennen und annehmen. „Du bist ja schon da bei mir. Du sendest mir Menschen, die mir helfen und mir raten und mir bezeugen, dass Deine Liebe größer ist als alles, was wir einander tun können. Du bist ja schon da und hast mein Leben zu Deinem Leben, meinen Leib zu Deinem Leib, meinen Schmerz und meine Mühe zu Deinen gemacht. Du bist ja schon da bei mir. Nun lass mich auch da sein bei Dir.“

    Im Leben und im Zeugnis Mariens ist das vielleicht am deutlichsten geworden: Zuerst jubelt sie, dass Gott auf ihre Niedrigkeit geschaut und Großes an ihr getan hat. Erst so ist sie fähig und bereit, sich aufzumachen für Ihn und sich aufzumachen zu den anderen, um ihnen Jesus und die Freude über sein Kommen zu bringen „Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach Deinem Wort!“

    „Lass uns in Deinem Reich bei Dir sein!“, beten die Apostel. Wir wollen mit ihnen lernen, über das Ziel den Weg nicht zu vergessen, mit Jesus einander zu dienen und ihn einzulassen in unser Leben, weil er uns zuvorgekommen ist. Und wir wollen Jesus zusammen mit den Aposteln bitten:

    Du bist in Maria Mensch geworden, um bei mir zu sein.
    Ich bitte Dich: Lass mich in Deiner Herrlichkeit auch bei Dir sein.
    Schon heute, weil Du in mein Leben eingetreten bist.
    Schon heute, weil wir zusammen mit Dir füreinander da sein können.
    Schon heute, weil wir uns Deiner Liebe anvertrauen dürfen,
    die uns über uns selbst hinausführt
    in die Freude, die Du schenkst,
    und in Deine Herrlichkeit, die hier beginnt
    und niemals endet.

    Amen.

    Fra’ Georg Lengerke