„Mir ist nicht nach Weihnachten!“, sagt meine Gesprächspartnerin auf einem adventlichen Spaziergang. Dann sprechen wir vom Krieg und seinen schrecklichen Bildern, vom Klima und der Zukunftsangst, von Polarisierungen und Sprachunfähigkeit, von zerbrochenen Beziehungen und verlogenen Familienfesten.
Während wir weitergehen, frage ich mich, wie einem ist, wenn einem „nach Weihnachten“ ist. Und ich denke an die überzogenen Erwartungen an Stimmung und Atmosphäre; an angestrengte Weihnachtskartenschreiber und Geschenkekäuferinnen; an die Betonung der „Besinnlichkeit“ und die Frage, worauf man sich denn besinnen soll; an die Sehnsucht nach guten Gefühlen, die wichtiger werden als das Gefühlte. Und ich denke an die belogenen Kinder, denen man erzählt, das „Christkind“ habe die Geschenke der Eltern gebracht. Nach solcher Weihnacht ist auch mir nicht.
„Wonach ist Dir denn?“, frage ich meine Begleiterin. „Mir ist danach, dass Weihnachten einen Unterschied macht“, sagt sie, „und nicht einfach nur eine Pause wie jede andere oder eine Flucht aus der Wirklichkeit.“
„Ich glaube, der Unterschied besteht in dem, was wir feiern“, sage ich. Und dann sprechen wir über die Geburt der historisch am besten bezeugten Person der Antike. Über das, was wir über Jesus von Nazareth historisch wissen, und über das, was wir von den Zeugen hören, die mit ihm gelebt und ihm geglaubt haben. Und wir sprechen von denen, die ihn abgelehnt, und denen, die ihn angenommen haben.
„Den Menschen in Bethlehem war offenbar auch nicht nach Weihnachten zumute“, sagt meine Nachbarin und lächelt. Das Evangelium sagt, sie hatten keinen Platz für Josef aus Nazareth und Maria, seine schwangere Braut. „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“, sagt das Johannesevangelium über die Geburt Jesu (Joh 1,11).
An Weihnachten feiern die Christen, dass Gott als ein Mensch in die Welt kommt und in das Leben der Menschen eintritt. Einmal und für immer. Gott bleibt im Kommen. Gott kommt zum Menschen, damit der Mensch zu Gott kommt. Der Himmel kommt zur Erde, damit die Erde in den Himmel kommt. Gott nimmt Anteil am Leben der Menschen, damit die Menschen Anteil am Leben Gottes bekommen – und zwar schon hier in der versehrten und blutenden, gefährlichen und gefährdeten Welt.
An Ihm scheiden sich die Geister. Den Satten und Schläfrigen und Selbstgenügsamen ist nicht nach Weihnachten. Sie wollen Ihn aus ihrem Leben entweder raushalten oder rausschaffen.
Aber den Hirten ist nach Weihnachten. Denen, die nichts zu verlieren haben, denen angesichts der Welt angst und bange wird, die wachen, wenn andere schlafen, weil sie bereit sein wollen, wenn entweder Gefahr oder Rettung naht. Und den Weisen aus dem Morgenland ist nach Weihnachten, weil sie nach dem Sinn hinter den Dingen und nach der Botschaft fragen, von der uns Himmel und Erde erzählen.
Auf unserem Adventsspaziergang erzähle ich dann von meinem schönsten Weihnachtsfest. Am 22. Dezember 2016 ruft mich im Auto ein Arzt an und sagt mir, dass ich Krebs habe. Nach Weihnachten würden wir über die weitere Behandlung reden müssen. Ich bin zu Tode erschrocken. Ich nehme alles nur noch wie durch Watte wahr. Nur ein Wort erreicht mich so, wie mich kaum eines je erreicht hat. Eine alte Franziskanerin erzählt mir, was der heilige Franz von Assisi über das Weihnachtsfest sagt: „Für uns am Wegrand geboren, kommt Er in das Fleisch unserer Zerbrechlichkeit.“
Das Wort werde ich nie vergessen. Weihnachten sagt uns, dass Gott als Mensch so in unser Leben kommt, dass nichts mehr ohne Ihn geschieht: dass wir nicht ohne Ihn leben und wachsen, Wege wählen und gehen, fallen und aufstehen und Verzeihung finden, lieben und leiden, unser Leben geben und sterben. Und zwar hinein in jene Fülle des Lebens, von der die Engel auf den Feldern bei Bethlehem den Hirten singen.
„Hat Dir die Diagnose nicht das ganze Weihnachtfest versaut?“, fragt meine Begleiterin. „Nein“, sage ich, „im Gegenteil. Mir war noch nie so sehr nach Weihnachten.“
Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinanderher. Dann frage ich: „Und? Ist dir jetzt mehr nach Weihnachten?“ „Ich weiß nicht“, sagt sie. „Vielleicht brauche ich einfach noch Zeit.“ Wieder gehen wir eine Weile schweigend. Dann sagt sie: „Vielleicht kommt es gar nicht darauf an, ob mir nach Weihnachten ist. Vielleicht geht es an Weihnachten ja darum, dass Gott nach mir ist.“
Es ist Weihnachten. Und an Weihnachten feiern wir, dass Gott in unser, in Dein Leben eintritt und sagt: „Gut, dass Du da bist. Denn mir ist nach Dir!“
Fra‘ Georg Lengerke
Der Beitrag erschien zugleich in der Reihe „Spurensuche“ der Deutschen Welle unter https://www.dw.com/de/wonach-uns-an-weihnachten-ist/a-67769408