Die offene Stelle im Informationskrieg (Apg 5, 27–32.40b–41)

In den vielfältigen Auseinandersetzungen unserer Zeit tobt auch ein sogenannter „Informationskrieg“. In dem stehen sich u. a. die Angst vor Lüge, Vertuschung und Desinformation einerseits und der Protest gegen Zensur, Einseitigkeit und sprachliche oder informationelle Bevormundung andererseits gegenüber.

Dieser Krieg verwirrt mich weniger wegen der in der Tat verwirrenden Informationslage, sondern weil ich in ihm auf beiden Seiten stehe. Ich möchte weder belogen noch bevormundet werden.

In einem Verfahren vor dem Hohen Rat werden die Apostel an ein Redeverbot über die Lehre Jesu erinnert, die für sachlich falsch und für politisch und religiös gefährlich gehalten wird. Für ein solches Verbot kann es damals wie heute gute Gründe geben. Dennoch sehen sich die Apostel nicht in der Lage, diesem Verbot Folge zu leisten: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg 5,29)

Wir erkennen den Willen Gottes in der Schöpfung, im Wort und Wirken Jesu, im Gebet und im Gewissen, in der Hl. Schrift und der Überlieferung, im Zeugnis der Heiligen und in der Lehre der Kirche. Hinzu kommt die Kunst der „Unterscheidung der Geister“, in der Lehrer wie Ignatius von Loyola uns Kriterien anbieten, um herauszufinden, „was mehr dem Willen Gottes entspricht“.

Es gibt Behauptungen, denen muss „um Gottes Willen“ widersprochen werden. Aber der Wille Gottes eignet sich nicht als Argument für Fragestellungen, in denen man legitimerweise unterschiedlicher Auffassung sein kann. Man kann als Christ mit guten Gründen für oder gegen eine Impfpflicht oder in bestimmen Fällen für oder gegen Gewaltanwendung sein.

Entscheidend scheint mir etwas anderes zu sein. Es wird wichtig sein, dass Christen Zeugnis dafür geben, dass „wir die Wahrheit nicht haben, sondern die Wahrheit uns hat“ (Benedikt XVI.), dass das, was wir vom Willen Gottes verstanden zu haben meinen, zuerst unser eigenes Leben prägen will.

Das Erkennen des Willens Gottes ist nämlich kein einfaches Bescheidwissen. Was uns im Glauben offenbar ist, ist uns gerade nicht verfügbar. Vielmehr erwächst es aus der Kommunikation mit Gott als dem ganz Anderen durch unsere Lebens- und Weltgeschichte hindurch.

Das ist der subtilste und zugleich mächtigste Widerstand gegen alle totalitären Ideologien und jedes abgeschlossene System – auch und gerade wo die sich den Anschein der Menschenfreundlichkeit oder Frömmigkeit geben. Das Hören, Tun und Weitersagen des Willens Gottes hält in der Welt eine Stelle zu Gott hin offen, dem schöpferischen und liebenden und einmal vollendenden Gegenüber von allem, was ist.

In unseren Tagen werden wir – Gott sei Dank – jeder Möglichkeit beraubt, den Willen Gottes mit den Mitteln weltlicher Macht oder Gewalt durchzusetzen. Am Ende wird es die Liebe sein, die der Eine in seinem Sterben offenbart hat und für die noch viele sterben werden, die den Sieg davonträgt – und zwar um aller Menschen willen.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Unmöglich schweigen können – Predigt eines Dankbaren über die Dankbarkeit (Poreč/Istrien am 23. April 2022)

In der vergangenen Woche wurde in der Euphrasius-Basilika in Poreč (Istrien) der 50. Geburtstag zweier Verwandter gefeiert. Als die beiden 18 wurden, war ich bereits 22. Damals fand ich es irgendwie niedlich, wenn Jüngere vor Stolz über ihre Volljährigkeit kaum gehen konnten. Mein fünfzigster Geburtstag liegt heute auch schon ein paar Jahre zurück. Und die fünfzigjährigen Vettern sind nicht mehr bloß niedlich, sondern schon durch ganz schön viel durchgegangen. Mit 18 sagen wir: Jetzt geht es los. Mit 50 freuen wir uns, dass wir noch leben.

Die Predigt kann man als Podcast hören. In ihr geht es um die Dankbarkeit als christliche Perspektive auf die Welt. In dieser Perspektive gehört alles hinein in die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Dinge sind Gaben, Umstände sind Gegebenheiten und Menschen sind Geber, Begabte und Gegebene.

Froh sein kann man einfach über etwas. Dankbar ist man immer jemandem für etwas. Dankbarkeit ist Beziehungssache. Ich erinnere mich an jenes Gefühl der Dankbarkeit in meiner Jugend, das ich nicht recht deuten konnte, weil ich nicht wusste, wem eigentlich ich dankbar bin. Wenn mir heute jemand von seiner unadressierbaren Dankbarkeit erzählt, dann denke ich: Der, dem du dankbar bist, den nennen die Christen Gott.

In der Tageslesung vom letzten Samstag sagten die Apostel im Verhör vor dem Hohen Rat. “Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben.” (Apostelgeschichte 4,20) Auch die Dankbarkeit hat eine missionarische Kraft. Sie handelt von dem, wovon wir unmöglich schweigen können.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Wem glauben? Joh 20, 19–31

Die vergangene Tage verbringe ich mit einer großen Gruppe von Verwandten und Freunden anlässlich eines Geburtstagsfestes. Viele sprechen mich auf die Kirche an. Mehr als sonst sind verzagt, resigniert oder empört. Die einen über menschliches oder systemisches Versagen, andere entweder über die kirchliche Lehre oder über deren Infragestellung, wieder andere entweder über die Berichterstattung über die Kirche oder über das von ihr Berichtete.

Manchmal kann ich antworten, entgegnen, zustimmen; oft höre ich nur zu. Dreierlei kommt mir dabei in den Sinn.

1. Die Frage, wem wir glauben können, begleitet die Christen seit dem Tod und der Auferstehung Jesu. Die ersten Zeugen des leeren Grabes werden belächelt oder desavouiert. Thomas glaubt den Aposteln nicht. Jesus tadelt auch deren „Unglauben und ihre Verstocktheit, weil sie denen nicht glaubten, die ihn nach seiner Auferstehung gesehen hatten.“ (Mk 16,14) Es ist entscheidend, dass in der Kirche Menschen zu finden sind, denen man ihren Weg mit Christus glauben kann – jenseits moralischer oder politischer Streitfragen.

2. Jemand sagte mir, die Kirche sei eh nur eine menschliche Einrichtung. Aber sie ist mehr als das.
Sie ist auch der dramatische Ort, an dem die Gnade Gottes auf meine Schuld, seine Liebe auf meinen Hass, sein Wohlwollen auf unsere Verärgerung trifft. Sie ist der Ort, an dem Gott sich offenbart und erkennbar wird. Weil überall da, wo Gott erkennbar wird, die Kirche schon anfängt.
Das ist keine Verharmlosung. Gott lässt sich als Mensch all das antun, was wir einander antun. Deshalb kann die Kirche nicht nur Menschenwerk sein. Und deshalb wird es nie gelingen, die Schuld vollkommen aus ihr zu tilgen. Eine Kirche ohne Sünder ist leer.

3. Gestern haben wir die Messe in einer alten Basilika von 554 gefeiert, deren Vorgängerbau aus dem 4. Jahrhundert noch erkennbar ist. In der Apsis prachtvolle Mosaiken von frühen Glaubenszeugen, Frauen und Männern. Und ich muss daran denken, dass wir Heutigen in der Kirche die Minderheit sind. Auch wenn das nicht alle Fragen beantwortet: Wir tun gut daran, mit den Früheren im Gespräch zu bleiben. Ihrem Bekenntnis dürfen wir glauben, auch wenn wir nicht in allem einen Konsens finden. Die Mehrheit der Kirche ist schon bei Gott. Das hilft mir, mich über die Minderheit der heute Herumlaufenden nicht zu sehr zu ärgern, sondern ihnen – zusammen mit Gott und allen Heiligen irgendwie gut zu sein.

Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Hierzulande werden wir weniger. Weltweit werden wir mehr. Aber Zahlen sind nicht wichtig. Die Apostelgeschichte geht weiter. Wir brauchen Antworten. Und ich vertraue darauf, dass sie ergehen werden.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Ostern: Zweierlei Morgen-Grauen

Ein Sketch von Diether Krebs und Iris Berben zeigt das Abendgespräch eines Paares. Sie hält ein Glas Wein. Er liest Zeitung. Sie: „Weisst du Herbert, als ich aus dem Fenster sah, graute der Morgen.“ Er schaut auf und sagt: „Dem Morgen.“

„Grauen“ kann beides bedeuten: das Dämmern am Morgen oder das Entsetzen angesichts einer schrecklichen Erfahrung.

An diesem Ostermorgen muss ich an beides denken: an das dämmernde und das entsetzliche Grauen. Die Frauen kommen zum Grab „als es noch dunkel war“ (Joh 20,1). Vor dem Morgengrauen des anbrechenden Lichtes erleben sie jenes andere Grauen: Das Grab ist leer, die Grabesruhe zerstört, der Tote weggenommen. Es muss für die Frauen am Grab eine Fortsetzung, ja Steigerung eines grauenvollen Entsetzens gewesen sein.

Für viele Menschen bedeutet das „Grauen“ am Morgen nicht das Ende der Nacht, der Dunkelheit, der Angst und des Schreckens, sondern ihr Anfang.

Ich denke an Menschen, die an Depressionen leiden, für die am Morgen nicht das beginnende Licht im Dunkel graut, sondern denen schon am Morgen vor dem Tag graut, der ihnen ein nicht zu überwindendes Hindernis scheint.

Auch Menschen, die in dieser Zeit morgens aus den Kellern und U-Bahn-Schächten ihrer nächtlich bombardierten Städte kommen, überkommt das Grauen angesichts dessen, was von ihren Lieben und ihren Häusern noch übrig ist.

Und wie viele Menschen wachen gerade aus einem Traum von einer friedlichen, sicheren, wohlhabenden Existenz auf und sehen das Grauen der wirkliche Welt, die von Gewalt und Krieg, Verfolgung und Flucht gezeichnet ist.

Und dann gibt es jenes andere, das dämmernde Morgengrauen. Wenn die Nacht sich dem Ende neigt, der erste Silberstreifen des Lichtes erscheint und Menschen die Hoffnung haben, dass auch die inneren Nächte von Geist und Seele zu Ende gehen.

„Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaft auferstanden!“ lautet der Ruf der Kirche im heutigen Morgengrauen. Wenn wir den Zeugen der Auferstehung glauben und uns ihrer Kommunikation mit dem Auferstandenen anschließen, dann verändert sich etwas. Dann werden wir durch zweierlei Morgen, zweierlei Erwachen und zweierlei Grauen geführt.

Zweierlei Morgen: Ostern sagt uns, dass heute der Morgen eines neuen Tages ist – und der Morgen einer neuen Zeit.

Zweierlei Erwachen: Wir wachen aus dem Heile-Welt-Traum in der umkämpften Wirklichkeit auf – und wir werden geweckt in ein neues Sehen dessen, was die unsterbliche Liebe tut.

Und zweierlei Grauen: Wir werden bevollmächtigt, uns mutig dem Grauen angesichts menschlicher Abgründe zu stellen – und wir beginnen auszuschauen nach dem Grauen des anbrechenden „Lichtes vom Licht“, das mehr ist als Strahl, Welle oder Photonen.

Von Ostern an halten wir Ausschau. Und wir sehen im Glauben, dass schon jetzt ein neuer Morgen graut. Nicht nur ein neuer Tag, sondern eine neue Zeit.

Und es ist anders als im Sketch: Weder graut diesem Morgen vor uns, noch graut uns vor diesem Morgen. Denn was im Glauben, Hoffen und Lieben begonnen hat, ist der Ostermorgen der Welt. Der Morgen, der „keinen Abend mehr kennt“ (Augustinus).

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Grabesunruhe in Mariupol – Karsamstag (Deutsche Welle am 17. April 2022)

Tote in Tüten. Das waren mit die verstörendsten Bilder vom Krieg in der Ukraine. In Mariupol legen Menschen in Plastik gewickelte Leichen in einen Graben zwischen Häuserzeilen. Der Graben ist nicht sehr tief. Er wird bestenfalls notdürftig zugeschüttet. Aus Hinterhöfen werden Friedhöfe. Oder eher Unfriedhöfe, über die sich eine Grabesunruhe gelegt hat.

Denn es ist schwer vorstellbar, dass die zu Tode Gequälten, die Ermordeten, die Verratenen oder im Stich Gelassenen einfach so „in Frieden ruhen“. Oder dass sich Gewalttätige und Folterer, Mörder und Schlächter einfach lächelnd davon machen in ein „Ruhe im Frieden“.Kann es denn sein, dass in all deren Leben die Bosheit oder das zynische Recht des Stärkeren einfach so folgenlos das letzte Wort haben?

Der heutige Karsamstag ist für Christen der Tag der Grabesruhe Jesu. Gestern, am Karfreitag, hat die Kirche sich an das Leiden und Sterben Jesu Christi erinnert. Er wird unschuldig verurteilt, gefoltert und halb totgeschlagen und am Ende vor den Toren Jerusalems an einen Holzpfahl genagelt bis er stirbt. Eilig wird er von Freunden in das Grab eines Anderen gelegt.

Heute, am Karsamstag, breitet sich in den Kirchen ein großes Schweigen aus. Es finden nur einzelne Gebetszeiten oder Wachen an Darstellungen des Grabes Christi statt. Es ist, als würden sich die Christen weltweit mit den Weinenden auf den Unfriedhöfen von Mariupol und Charkiw und all den stillen Schreckensorten in der Welt verbinden, wo Menschen an den Gräbern ihrer notdürftig verscharrten Lieben trauern.

Es ist nicht so einfach, diese unfriedliche und eigentlich unabsehbare Todesstille auszuhalten. Vor allem dort, wo kein Grund zur Hoffnung mehr erkennbar ist. Vielleicht ist das der Grund, warum in der katholischen Kirche die ursprünglich nächtliche Auferstehungsfeier bis in die 1950er Jahre immer mehr in den Karsamstag hineingewandert war.

Dabei ist für Christen dieser Tag mehr als bloß ein Tag der Grabesruhe. Es ist der Tag, von dem es im christlichen Glaubensbekenntnis heißt, Jesus Christus sei „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Was heißt das? Christen glauben, dass in Jesus Christus sich Gott als Mensch geoffenbart hat. Wenn jemand fragt: Wie ist Gott? Dann zeigen Christen auf Jesus von Nazareth und sagen: „So!“ Aber damit meinen sie nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern eine Identität: Jesus ist Gott der Sohn. In diesem Einen verbinden sich das göttliche und das menschliche Wesen – ohne getrennt und ohne vermischt zu sein.

Im Leiden und Sterben Jesu geschieht etwas Erstaunliches: Jesus erlebt und teilt alle Angst und Verzweiflung, alle empfundene Gottesferne und Verzweiflung, die Menschen kennen. Bis dahin, wo der Mensch schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,2) Zugleich lässt er sich nicht zum Hass bewegen. Er hält die liebende Verbundenheit mit Gott dem Vater durch – bis in die Trennung vom Leben, bis in das „Reich des Todes“.

In den griechischen Mythen versuchen Helden in das Reich des Todes zu gelangen, um ihre Lieben zu retten. Christen behaupten, dass der Mythos im historischen Sterben und Tod Jesu wahr wird. Aber nicht durch Kampf oder listige Prüfung wie bei Achilles oder Orpheus. Sondern indem er den Tod der Ermordeten von Charkiw und Mariupol stirbt und so in das Gefängnis der irdisch Erloschenen einsteigt, aus dem es für uns allein keinen Ausweg gibt.

Mariupol heißt „Marias Stadt“. Maria, die Mutter Jesu, ist die nächste am Kreuz und am Grab. Eine andere Maria (aus Magdala) ist die erste am leeren Grab, am aufgebrochenen Gefängnis des Todes. Überall, wo wir an Gräbern stehen, ist Mariupol, Marias Stadt. Und in der Stadt Mariens wird es einmal sein, dass wir erkennen und feiern dürfen: Einer, der eine unsterbliche Liebe zu uns hat, wird zusammen mit uns das Gefängnis verlassen – und mit denen, die tot in Tüten waren. 

Dieser Artikel erschien am 16. April 2022 unter https://www.dw.com/de/grabesunruhe-in-marias-stadt/a-61394544

Schott Tagesliturgie