Die Gefälligkeit, auf die es ankommt (Taufe des Herrn) Lk 3,15-16.21-22

„Eure Gunst, unser Streben“ lautet das Motto des Circus Krone hier in München. Für einen Zirkus mag das in Ordnung sein. Als Lebensmotto bewährt es sich nicht.

Ich freue mich, wenn Menschen gefällt, was ich mache. Aber das macht mein Handeln noch nicht gut. Denn vielen gefällt ja auch Belangloses, Unangemessenes oder Böses. Was ich sage und tue, soll wahr und gut sein. Auch dann, wenn es Menschen nicht gefällt.

Deshalb ist umgekehrt auch das Missfallen der Menschen kein Kriterium für die Richtigkeit oder Angemessenheit einer Handlung. Gegen einen Strom zu schwimmen, ist nur dort richtig, wo der Strom in die falsche Richtung fließt.

Egal ob Gefallsucht, Missfallsucht oder Selbstgefälligkeit. Alle drei sind Formen von Korruption.

Im Torquato Tasso lässt Goethe den Tasso die paradiesische „goldne Zeit“ in dem Wort zusammenfassen: „Erlaubt ist, was gefällt.“ Die Prinzessin von Este entgegnet, die goldne Zeit leuchte da auf, wo „erlaubt ist, was sich ziemt“. Aber was ziemt sich?

Die Szene der Taufe Jesu endet mit der Stimme des Vaters, die zu Jesus sagt: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.“ Das wird nicht gesagt, um Jesus zu informieren oder ihn erst zum Gottessohn zu machen. Das ist er schon von Ewigkeit her.

Hier wird öffentlich der Bund Gottes mit den Menschen proklamiert, der in der durchgehaltenen Verbundenheit des Mensch gewordenen Sohnes mit Gott dem Vater endlich vollkommen zum Vorschein kommt.

Wo Jesus steht, da ist zugleich der Ort des einzigen Gefallens, auf das es wirklich ankommt. Im Leben Jesu wird deutlich, was das altertümlich klingende Wort „Gottgefälligkeit“ meint. Gottgefällig ist das wahre und gute Leben aus der Liebe und um der Liebe Willen.

Zu diesem Leben gehört für die Christen, dass sie ihrerseits Gefallen finden an Jesus. Und dass sie es sich schließlich gefallen lassen, dass er bis in alle Tiefen unseres Lebens, unserer Irrungen und Wirrungen, ja bis in unseren Tod hinabsteigt, damit wir alle nach Hause finden –

in das Gefallen Gottes und seine „Gunst“.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Diesseits des Furchtbaren – Weihnachten als Seitenwechsel, Deutschlandfunk 31. Dezember 2021

Heute ist der letzte Tag im Jahr. Und viele Menschen hat das vergangene Jahr das Fürchten gelehrt.

„Fürchtet euch nicht!“ Mit diesem Wort des Engels beginnt im Lukasevangelium der Bibel die Weihnachtsbotschaft an die Hirten auf den Feldern bei Bethlehem. Wenn man mir als Kind sagte: Hab keine Angst!, dann hieß das meistens so was wie: Der Hund will nur spielen. Anders gesagt: Es gibt gar keinen Grund, sich zu fürchten.

Für viele Menschen gibt es aber Gründe zur Furcht: vor der Krankheit oder den Kranken, vor dem Fremdsein oder dem Fremden. Furcht vor Veränderungen des Klimas, vor Radikalisierung oder Terror. Furcht vor dem Scheitern im Beruf oder in der Ehe. Furcht vor der Spaltung der Familie, der Gesellschaft oder der Kirche – und in allem die Furcht vor Sterben und Tod.

Es sind Hirten, die als erstes von der Geburt Jesu erfahren. Einfache Menschen mit einem unverstellten Zugang zur Welt. Menschen, die noch wissen, dass die Welt geheimnisvoll ist. Nicht etwa deshalb, weil wir noch nicht alles rausgefunden haben. Sondern weil es Dinge gibt, die wir prinzipiell nicht rausfinden können. Sie bleiben uns unverfügbar. Sie müssen sich erst zeigen, wenn wir sie denn wahrnehmen sollen. Und sie können sich nur denen zeigen, die dafür bereit und offen sind und die nicht schon allzu genau zu wissen meinen, was es geben kann und was nicht. Deshalb sehen Kinder manchmal mehr als Erwachsene. Und deshalb wird jemand, der sich nicht lieben lassen will, nie wissen, was Liebe ist.

Ich stelle mir vor, dass die Hirten einen Blitz lang gesehen haben, was die Texte der Bibel die „Herrlichkeit Gottes“ und die alten Glaubensbekenntnisse der Kirche die „unsichtbare Welt“; die Engel und die „himmlischen Heerscharen“, jene Mächte und Gewalten, die im Gottesdienst der Kirche noch genannt, aber ansonsten außerhalb der Esoterik praktisch nicht mehr ernst genommen werden. Die Hirten sehen für einen Augenblick über unseren begrenzten Gesichtskreis hinaus. Sie schauen die himmlische Herrlichkeit, die uns nach dem Zeugnis der Bibel, der Mystik und der Lehre der Christen unsichtbar umgibt. Die ist schön und furchtbar zugleich, weil sie unendlich viel größer und mächtiger ist als alles, was unser eigenes Leben bedroht und gefährlich macht.

Deshalb kommt Gott als ein Kind. Die Weihnachtsbotschaft an die Hirten lautet nicht: Fürchtet Euch nicht, denn Gott ist harmlos! – Nein, die Botschaft von Weihnachten lautet: Fürchtet Euch nicht, denn Euer Retter kommt als „ein Kind, […] in Windeln gewickelt“! Warum? Damit Ihr Euch nicht auch vor ihm noch fürchtet – genauso wie ihr Euch vor den Mächten fürchtet, die Euer Leben bedrohen.

An Weihnachten geschieht ein Seitenwechsel. Gott wird in Jesus einer von uns. Gott kommt aus dem Jenseits ins Diesseits. Jenseits und diesseits von was? Wenn Menschen vom „Jenseits“ sprechen, dann meinen sie in der Regel den Tod oder das Leben nach dem Tod. Das macht Sinn. Aber Gott kommt nicht nur von jenseits des Todes zu uns. Er kommt auch von jenseits all dessen zu uns, was tödlich ist, was unser Leben eintrübt und bedrückt, uns mutlos, untröstlich oder schuldig werden lässt.

Mit der Geburt Christi beginnt eine neue Art der Gottesbeziehung. Gott ist nicht mehr nur ein jenseitiger Gott, von dem wir erwarten, dass er endlich abschafft, was uns diesseitig leiden macht. Sondern er ist der Gott, der als Mensch auf diese unsere Seite kommt, damit wir uns vor dem Furchtbaren nicht mehr fürchten, damit wir mit ihm verbunden und füreinander da sind und damit wir auf dem Weg zu unserem Ziel hin bestehen.

An Weihnachten Gott kommt als ein Mensch in die Welt, damit wir Menschen in seiner geliebten und gefährlichen Welt mutig werden – und uns nicht mehr fürchten als unbedingt nötig.

Fra’ Georg Lengerke

Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 31.12.2021 als Morgenandacht im Deutschlandfunk gesendet.

Schott Tagesliturgie

Vom Geburtstagskind, das unenttäuschbar war, Deutschlandfunk 30. Dezember 2021

Weihnachten ist noch nicht vorüber. Aus christlicher Perspektive dauert das Fest noch bis ins neue Jahr. An keine andere Zeit im Jahr richten sich so viele Erwartungen. Und kein Fest ist so reich an Enttäuschungen. Doch ein Mensch inmitten dieses jährlichen Schlamassels scheint schier unenttäuschbar sein: das Kind in der Krippe, dessen Geburt die Christen am Weihnachtsfest feiern.

Irgendwo las ich mal die Geschichte von dem kleinen Jakob, der am späten Heiligen Abend allein an der Krippe steht. Lange schaut er die Figuren an. Bis sie scheinbar lebendig werden und sich langsam zu bewegen beginnen. Ein Hirte schafft einen Tragekorb mit Brennholz herbei. Eine Hirtin bringt dem heiligen Kind ein Lamm. Ein Junge legt einen Beutel mit Brot vor die Krippe. Und auf ihren Kamelen schwankend halten die drei Weisen in der Ferne bereits Gold, Weihrauch und Myrrhe in den Händen, um sie in wenigen Tagen dem Jesuskind darzubringen.

Da spürt Jakob, wie sich von ganz unten ein Schluchzen in ihm Bahn bricht, und über seine Backe kullert eine warme Träne. Gleich wischt er sie mit dem Ärmel weg und denkt, niemand habe sie bemerkt. Da sagt eine Stimme: „Was hast Du denn, Jakob?“ Einen Augenblick wundert er sich, dass er so gar nicht erschrocken über sie war. Denn auch wenn er sie noch nie gehört hatte, schien sie ihm doch irgendwie vertraut.

„Na? Was ist?“, sagt die Stimme. Da erkennt Jakob, dass es das Kind in der Krippe ist, das mit ihm spricht. „Ich habe Dir nichts mitgebracht“, sagt Jakob leise. „So?“, sagt das Jesuskind fragend, und es entsteht eine kleine Pause, die Jakob nicht sehr angenehm ist. „Na, ich meine, nicht so wie die anderen… Ich habe kein Geschenk für dich“, purzeln die Worte aus dem Jungen heraus. 

„Darf ich mir was wünschen?“, fragt Jesus. Jakob fällt ein Stein vom Herzen. „Au ja“, sagt er ohne Zögern. Und plötzlich großzügig geworden, ergänzt er: „Du hast drei Wünsche frei!“ 

„Ich wünsche mir von Dir den Aufsatz, den Du gestern in der Schule zurückbekommen hast!“ Jakob erschrickt. Und für eine Weile verstummt er. „Ungenügend“ hatte mit dem berüchtigten roten Kuli darunter gestanden: „Aber der war vollkommen missglückt“, antwortet Jakob. „Wie wäre es“, sagt Jesus ohne eine Spur von Überraschung, „Du würdest mir einfach immer alles bringen, was ‚vollkommen missglückt‘ ist?“ Jakob denkt nach. Und fast hätte er vergessen, nach dem zweiten Wunsch des Christkinds zu fragen.

„Ich wünsche mir von Dir die Tasse, die Deine Großmutter Dir zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hat.“ Jakob sinkt das Herz in die Hose. „Die habe ich nicht mehr…“, sagt er, „die ist zerbrochen.“ „Ich weiß“, sagt das Jesuskind mit sehr ruhiger Stimme. „Aber ich möchte, dass Du mir alles schenkst, was in Deinem Leben zerbrochen ist.“ 

„Und … was wünscht du dir noch?“ sagt Jakob nach einer langen Pause mit kaum hörbarer Stimme. „Willst du mir nicht auch noch die Antwort schenken, die du Deiner Großmutter gegeben hast, als sie nach der Tasse fragte?“ Da beginnt Jakob leise zu weinen. Und schniefend gibt er zur Antwort: „Aber ich habe sie angelogen. Ich habe gesagt, die Tasse sei mir in der Schule geklaut worden.“ „Ach, mein Jakob“, sagt das Jesuskind mit dieser seltsam vertrauten Stimme, die Jakob noch nie gehört hatte. „Schenk mir einfach alles, was in Deinem Leben gelogen und unwahr, verkehrt und böse gewesen ist.

Denn dazu bin ich ja geboren worden: um dem Gescheiterten aufzuhelfen und das Zerbrochene zu heilen, um die Schuld zu vergeben und die Zerstrittenen zu versöhnen.“

Jakob richtet sich auf. Und es ist, als stiege von dort, wo am Anfang der Schluchzer kam, ein Gefühl von Trost auf, ein tiefes Empfinden von Freundschaft und Glück. Er wollte ein großzügiger Schenker werden für dieses weihnachtliche Geburtstagskind, das einfach mit nichts zu enttäuschen war.

Fra’ Georg Lengerke

Hinweis: Beitrag wurde am 30.12.2021 im Deutschlandfunk gesendet.

Schott Tagesliturgie

Meine späte Ankunft an der Krippe, Deutschlandfunk 29. Dezember 2021

Ich erinnere mich noch genau, an welcher Stelle auf der Heimfahrt das Telefon klingelte. Es war der 22. Dezember 2016, zwei Tage vor Weihnachten. Wir hatten in die Malteserkommende Ehreshoven Gäste eingeladen, die Weihnachten sonst allein hätten feiern müssen. Wir waren gut vorbereitet. Dann kam der Anruf. Der Arzt am anderen Ende der Leitung kam schnell zur Sache: „Ich habe keine guten Neuigkeiten. Sie haben Krebs.“ Dann erklärte er mir, in welchem Stadium der sich befände und was mögliche nächste Schritte seien. „Kommen Sie doch am 2. Januar zu mir, dann planen wir den weiteren Weg.“

Wir waren gut auf Weihnachten vorbereitet. Aber darauf nicht. Auf solche Nachrichten kann man sich nicht vorbereiten. Und ich weiß jetzt, was Menschen meinen, wenn sie sagen, dass sie nach schockierenden Botschaften alles nur noch wie durch Watte wahrgenommen haben. So ging es mir auch. Zuhause angekommen, erzählte ich der befreundeten Kollegin davon, mit der ich das Weihnachtsfest ausrichtete und die sich bereits um die ersten Gäste kümmerte.

Am Tag drauf telefonierte ich mit einer alten Franziskanerin. Und die sagte mir ein Wort des heiligen Franziskus über Weihnachten und die Geburt Jesu: „Er kommt in das Fleisch unserer Zerbrechlichkeit.“ Dieses Wort traf mich wie kein anderes in jener Zeit. Es sollte mich bis heute nicht mehr loslassen. Wörtlich schreibt Franziskus: „Aus dem Schoß [der Jungfrau Maria] hat er das wirkliche Fleisch unserer Menschlichkeit und Gebrechlichkeit angenommen.“

Noch nie hatte ich meine Gebrechlichkeit und Sterblichkeit derartig brutal und bedrohlich vor Augen geführt bekommen wie unmittelbar vor diesem Weihnachtsfest. Und jetzt wurde mir gesagt: Weihnachten handelt gar nicht von großen Gefühlen oder vom idealen Leben. Weihnachten handelt davon, dass Gott als Mensch Deine Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit zu seiner macht.

Ich hatte zunächst nur meinen Allernächsten von der Diagnose erzählt. Auch während der Feier der Heiligen Nacht wusste außer mir nur die Kollegin von meiner Erkrankung. In der überfüllten Kapelle saß auch eine Mitarbeiterin der Malteser, die ich gut kannte und die schon länger sehr tapfer eine Krebsbehandlung durchmachte. Auch sie wusste noch nicht von meiner Diagnose und auch nicht, wie nah ich ihr in diesem Moment war. Und ich habe mich gefragt, welche Hoffnungen Menschen wie sie mit Weihnachten verbinden: dass wir gesund bleiben oder es bald wieder werden; dass wir nicht sterben müssen; dass Frieden auf Erden und Freude in den Herzen wird …

Alle diese Hoffnungen sind gut. Und es sind auch meine. Aber mir ist an diesem Weihnachtsfest vor allem klar geworden, was uns Gott alles nicht versprochen hat. Gott hat uns nicht versprochen, dass wir nicht krank werden und keinen Schmerz erleben, dass wir keine „bösen Tage“ erleben oder nicht früher oder später sterben werden.

Was Gott aber sehr wohl versprochen und an Weihnachten wahr gemacht hat, ist, dass er selbst ein Mensch wird und unser „Fleisch“, unser gebrechliches und gebrochenes, unser sterbliches und sterbendes leibliches Leben, zu seinem macht. Gott hat versprochen, dass wir nichts mehr ohne ihn erleben und erleiden werden – ja, dass er als Mensch sogar noch unsere Trennung von Gott zu seiner macht und aufhebt. Und das verändert alles!

Wenn ich seitdem anderen von den Tagen vor Weihnachten 2016 erzähle, höre ich oft: „Wie schrecklich! Das muss dir ja das ganze Weihnachtsfest verhagelt haben.“ Aber das Gegenteil ist wahr.

Ich erinnere mich noch genau, an welcher Stelle auf der Heimfahrt das Telefon klingelte. Bis heute ist dies die Stelle, an der mit einem Todesschrecken jenes Weinachtsfest seinen Anfang nahm, an dem ich endlich – mit Ende Vierzig – begonnen hatte, beim Kind in der Krippe anzukommen.

Fra’ Georg Lengerke

Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 29.12.2021 als Morgenandacht im Deutschlandfunk gesendet.

Schott Tagesliturgie

Weihnachtsmännlein, Deutschlandfunk 28. Dezember 2021

Vor einigen Jahren kam ich zu einem Gespräch zweier Mütter hinzu. Es war kurz vor Weihnachten. Sie unterhielten sich darüber, dass ihre Kinder langsam in ein Alter kämen, in dem sie nicht mehr glaubten, dass „das Christkind“ die Weihnachtsgeschenke bringe. Schon die Geheimhaltung werde immer schwieriger. Und die Plausibilität des Schornsteins, durch den die Geschenke in den ansonsten verschlossenen Raum kommen. „Was sagt man denn den Kindern da?“, fragte eine der beiden mich.

„Ein solchen Humbug haben uns unsere Eltern nie beigebracht!“, hätte ich fast gesagt. Fand das dann aber doch ein wenig grob und für den weiteren Verlauf des Gesprächs nicht unbedingt hilfreich. „Dass das Christkind die Geschenke bringt, habe ich ehrlich gestanden nie geglaubt.“ Sage ich stattdessen. Die unsägliche Sache mit dem Schornstein spreche ich erst gar nicht an.

Bei uns zu Hause war das Weihnachtsfest immer das Geburtsfest Jesu. Ein großer Salon mit einer doppelten Schiebetür war schon Tage vorher mit einer roten Schleife um beide Knäufe verschlossen. Wenn wir Kinder aus der nachmittäglichen Christmette kamen, mussten wir noch ein wenig warten bis dann die Eltern die Glocke läuteten und wir „Ihr Kinderlein kommet“ singend ins Weihnachtszimmer einzogen. Aus einer alten Lutherbibel aus dem 18. Jahrhundert las mein Vater das Weihnachtsevangelium. Dann wurde noch mal gesungen – ich glaube, es war meistens die unvermeidliche „Stille Nacht“ – und die Bescherung begann. Aber wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, dann wusste ich immer, dass die Geschenke von den Eltern und Großeltern, den Paten und anderen Verwandten, später dann auch von den Geschwistern kamen.

Etwas anderes hatte bei uns zuhause auch nie jemand behauptet. Der „Weihnachtsmann“, die aufgeklärt-säkulare Variante des hl. Bischofs Nikolaus, der sich als Werbeträger von Coca-Cola der Erinnerung der westlichen Welt einprägen sollte, kam in meiner Kindheit nicht vor. Ich fand diese himmlische pädagogische Hilfsinstanz auch immer irgendwie gruselig. Und auch das „Christkind“– gewissermaßen zum „Weihnachtsmännlein“ geworden – wurde nicht als Absender oder Lieferservice unserer Geschenke herangezogen. Es durfte einfach nur Geburtstag haben.

Ich habe mich in jenem Gespräch kurz gefragt, ob ich vielleicht ein Spielverderber bin. Vielleicht. Aber ich hatte das Gefühl, ich müsste einer sein. Wir dürfen Kindern keinen Unsinn erzählen. Vor allem dann nicht, wenn es um heilige Dinge geht und um Dinge, die wir glauben sollen, weil sie wahr sind.

An Weihnachten feiert die Christenheit nicht die sagenhafte Geburt eines göttlichen Kindes, das unsere menschlichen Wünsche erfüllt. Die Christen feiern die Geburt einer historischen Person zur Zeit des römischen Kaisers Augustus, die auch außerhalb christlicher Quellen außergewöhnlich gut bezeugt ist. In diesem Kind erkennen Menschen, dass Gott selbst die Bühne des Dramas der Weltgeschichte betritt.

Dieses Kind kommt mit leeren Händen. Es liegt „nackt und bloß in einem Krippelein“, wie es in einem alten Weihnachtslied heißt. Dieses Kind bringt gar keine Geschenke. Es ist vielmehr selbst das Geschenk. In diesem Kind macht Gott selbst sich zu einem Geschenk für die Menschen. Und alles Schenken zu Weihnachten hat ursprünglich den Sinn, uns daran zu erinnern, dass Gott sich uns Menschen zum Geschenk macht. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn‘ ich dir?“ dichtet Paul Gerhard im Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach.

Für mich ist die entscheidende Frage zu Weihnachten nicht, was ich diesem oder jenem Menschen schenken soll. Die entscheidende Frage scheint mir zu sein, ob wir bereit sind, uns mit der Gegenwart des göttlichen Menschenkindes beschenken zu lassen, dessen Geburtstag die Christen an Weihnachten feiern.

Fra’ Georg Lengerke

Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 28.12.2021 als Morgenandacht im Deutschlandfunk gesendet.

Schott Tagesliturgie