BDZ vom 9. Februar 2025
„Wie geht es dir?“, werde ich gefragt. „Gut“, antworte ich. Ich habe viele Gründe dankbar zu sein. So viel auf die Schnelle. Wie es aber wirklich um uns steht, erkennen wir oft erst in der Begegnung mit den Anderen. Ihre Fragen und ihr Blick bringen zum Vorschein, wer und wie wir geworden sind – und wer und wie wir werden können. Besonders dort, wo wir der Güte begegnen. Sie konfrontiert...
„Wie geht es dir?“, werde ich gefragt. „Gut“, antworte ich. Ich habe viele Gründe dankbar zu sein. So viel auf die Schnelle.
Wie es aber wirklich um uns steht, erkennen wir oft erst in der Begegnung mit den Anderen. Ihre Fragen und ihr Blick bringen zum Vorschein, wer und wie wir geworden sind – und wer und wie wir werden können. Besonders dort, wo wir der Güte begegnen. Sie konfrontiert uns mit ihrem verhärteten Gegenteil in uns und erneuert in uns die Gabe, gütig zu sein.
Das gilt erst recht in der Begegnung mit der Güte selbst. Der Prophet Jesaja berichtet von einer Vision. Er schaut die Herrlichkeit Gottes, die die ganze Welt erfüllt. Er hört den Lobpreis Gottes von „Brandwesen“ (Serafim), die das „Heilig, heilig, heilig“ singen – und erschrickt.
Die Begegnung mit dem Heiligen ist nicht angenehm. „Nie wieder“ wolle er so etwas erleben, sagte mir ein alter Herr, der in Lourdes Zeuge der Heilung einer an multipler Sklerose erkrankten jungen Frau wurde. So sehr fand er sich von dieser Erfahrung erschüttert und infrage gestellt.
Erschüttert und infrage gestellt ist auch der Prophet Jesaja. Nicht nur durch die Macht und Größe und Schönheit Gottes, sondern auch durch die schonungslose Erkenntnis seiner selbst: „Weh mir, denn ich bin verloren. Ein Mann mit unreinen Lippen bin ich, und mitten in einem Volk von unreinen Lippen wohne ich.“
„Unreine Lippen“ stehen für das, was und wie ich spreche. Und was und wie ich spreche, offenbart, was und wie ich denke. Und was und wie ich denke, filtert und prägt meine Wahrnehmung und ist der Anfang von dem, was ich tue. Ehebruch beginnt im Herzen, nicht erst im Bett, sagt Jesus (Mt 5,28). Und die Brücke dazwischen sind „unreine Lippen“.
Wie es um uns steht, um unser Gemeinwesen und um die Kirche, können wir daran ablesen, wie wir sprechen. Denn wie wir sprechen, so sind wir. Und wovon wir sprechen, dafür stehen wir.
„Weh mir, ich bin verloren!“, ruft Jesaja. Sein Ruf bleibt nicht ungehört. So darf es nicht bleiben. Ein Seraph berührt seine Lippen mit einer glühenden Kohle: „Dies hat deine Lippen berührt, so ist deine Schuld gewichen.“
Was Jesaja in einer jenseitigen Vision schaut, sehen die Menschen in der diesseitigen Begegnung mit Jesus Christus von Angesicht zu Angesicht. Die Herrlichkeit Gottes steht in Menschengestalt vor ihnen. Sie ist in ihm „erträglich“ geworden. Dennoch bricht Petrus nach dem wunderbaren Fischfang vor Jesus zusammen: „Geh weg von mir; denn ich bin ein sündiger Mensch!“
In der Begegnung mit dem Heiligen erfährt der Mensch, wie und wer er geworden ist – aber auch, wer er von Gott her ursprünglich ist und wieder werden kann. Aber was heißt das eigentlich „dem Heiligen begegnen“? Und wo geschieht es in der Welt?
Wir begegnen dem Heiligen in der Erfahrung von Schönheit. Davon erzählt Rilkes Erschütterung vor dem Torso des Apollo im Louvre: „Denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“
Dem Heiligen begegnen wir in der Liturgie, in der die unsichtbare Welt sich in der sichtbaren zeigt. In ihr wird Gottes Wort gesagt und gehört. Hier bewirkt es, was es sagt. Hier stimmen Menschen in den Lobgesang der Heerscharen ein, die Jesaja gesehen und gehört hat.
Wir begegnen dem Heiligen im Zeugnis der Liebe, besonders im Geliebtwerden. Denken wir an jene Liebenden, ohne die wir nicht wären, wer und wo wir sind. Mir fällt auch ein alter geistlicher Vater ein, der mir Anteil an seinem Leben mit Christus gab. Und das Zeugnis eines jungen Menschen, von dem ich noch nie ein böses Wort gehört habe.
Und wir begegnen dem Heiligen wie Petrus im Tun mit Christus und „auf sein Wort hin“ (Lk 5,5), indem wir uns selbst überschreiten zu dem hin, was wir allein aus uns selbst nicht vollbringen können.
In der Begegnung mit dem Heiligen können wir uns bekehren. Hier werden wir wie Jesaja gefragt: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“ Hier wird die neue Antwort möglich: „Hier bin ich, sende mich!“
Fra’ Georg Lengerke
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