Bitte um ein Nachtwort Mt 10,26–33

Es wurde noch nie so viel geredet wie heute. Und noch nie war die Herausforderung so groß, herauszufinden und zu lernen, wie mit dieser ständig anwachsenden Flut von Worten umzugehen sei.

Für mich ist das eine tägliche Frage. Sowohl bei dem, was ich lese, höre und sehe. Als auch für das, was ich sage und schreibe.

„Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet im Licht, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet auf den Dächern“, sagt Jesus.

Die Christen könnten also meinen, es ginge vor allem darum, die Scheinwerfer und die Bühnen zu suchen, um zu reden und zu verkünden… Ja, aber was eigentlich?

Den ersten Jüngern wird gesagt, sie sollten das nahe gekommene „Himmelreich“, „das Evangelium“, „die Umkehr“ und „die Vergebung der Sünden“ verkünden.

Das sollen sie zum einen durch ihre Lebensweise tun und insbesondere durch ihr Dasein für ihre Nächsten. Zum anderen, indem sie den Menschen von Gott erzählen und sie mit Jesus Christus, mit seinem Wort und Wirken und mit der Geschichte Gottes mit seinem Volk von Adam bis heute bekannt machen.

Aber indem ich das schreibe, merke ich, dass das noch nicht alles ist. Dass etwas nicht stimmt, wenn die Kirche einfach nur mitredet und mit ihren – oft nicht mehr verstandenen – Worten (oder mit dem, was ohnehin schon von allen anderen gesagt worden ist) die Wortflut noch mehrt.

Die Christen sollen im Licht von dem reden, was Jesus ihnen „im Dunkeln“ sagt, und auf den Dächern verkünden, was ihnen „ins Ohr geflüstert“ wurde.

Was sagt Jesus denn „im Dunkeln“? Und was wird uns von ihm zugeflüstert?

Gestern hat die Kirche das Geburtsfest Johannes des Täufers gefeiert. Das ist für mich aus zwei Gründen ein besonderes Fest. Zum einen ist es das Patronatsfest der Malteser. Zum anderen ist es der Tag, an dem ich vor 23 Jahren zum Priester geweiht wurde. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich besonders hellhörig bin an diesem Tag.

Jedenfalls muss ich heute daran denken, dass in den Texten dieses Hochfestes mehrmals von einer Vorbereitungszeit in der Stille gesprochen wird.

Zacharias, der Vater des Täufers Johannes, erlebt eine Zeit der Stille, um die Sprache wiederzufinden. Nachdem er die Nachricht von der bevorstehenden Geburt eines Sohnes nicht glaubt, verstummt er für neun Monate – bis das Kind geboren ist. Außerdem scheint er in dieser Zeit auch taub gewesen zu sein, weshalb die Angehörigen ihn zuletzt „durch Zeichen“ fragen, welchen Namen das Kind bekommen soll.

Und von Johannes wird erzählt, er sei schon früh in die Stille der Wüste gegangen, bis das entscheidende Wort ihn findet und trifft. Er bleibt dort „bis zu dem Tag, an dem er seinen Auftrag für Israel erhielt“.

Je gewaltiger die Flut an Worten ist, die über uns hereinbricht, und je trunkener die Menschen von dem Wortrauschen werden, umso mehr ist es an der Zeit, dass Menschen auf das Wort Jesu im Dunkeln hören. Im Dunkel der Ungewissheit und der Angst, im Dunkel der zerbrochenen Beziehungen und Gewissheiten. Je lauter geredet wird, um so wichtiger ist es, still zu werden, um im Dauergerede das geflüsterte Wort von Gott zu vernehmen, auf das es ankommt.

Das Hören im Dunkel braucht Geduld. Das deutsche Wort Geduld und die lateinische patientia haben mit leidvollem Ertragen zu tun. Und das fällt schwer.

Viele Menschen sehnen sich danach, dass Gott ein Machtwort spricht, dass sich mit einem Schlag die Dinge klären oder wenden. Am besten im Sinn des eigenen Lagers und der eigenen Partei.

Ich bitte darum, dass Gott ein Nachtwort spricht. Und dass Menschen da sind, die nächtens wachen und in der Stille das geflüsterte Wort hören, das von seiner Liebe erzählt, die Geduld hat mit uns.

Und wenn der Wortnebel sich legt und ein neuer Morgen anbricht, wird das Gehörte weitergesagt und gerufen und gesungen werden können im Licht und von den Dächern um die Marktplätze der Welt.

Fra' Georg Lengerke

Die Ökumene der Gesehenen Mt 9,36-10,8

„Mami, ich bin müde”, sagte die dreijährige Tochter von Freunden neulich, “ich will ausruhen”. Sprach’s und wurde von ihrer Mami auf eine Kuscheldecke in ihrem Zimmer gelegt, wo sie bald schlummerte.

Das fand ich bemerkenswert. Anderen Kindern fällt es schwer, zuzugeben, dass sie müde sind. Sie werden erst überdreht, dann knatschig und schließlich gibt’s Tränen.

Mir sagte jemand, das komme davon, dass Eltern ihre Kinder zur Strafe ins Bett schicken. Schlafengehen sollen ist dann Ausschluss vom Leben. Wachbleiben wird zur Überlebensfrage.

Das ist nicht nur bei Kindern so. Vielen Menschen fällt es ein Leben lang schwer, zuzugeben, dass sie müde und erschöpft sind. Vor allem dort, wo sie sich über das definieren, was sie tun, wem sie nützen und was sie bewirken. Dann ist phasenweise Erschöpfung nicht einfach ein normaler und gesunder Vorgang, sondern ein Zeichen der Schwäche, des Versagens und des drohenden Entzugs der Teilhabe am Leben.

Vielleicht hören deshalb viele Christen im Evangelium als erstes eher, was sie tun sollen, als was sie sich gefallen lassen dürfen; eher was sie geben sollen, als was sie empfangen dürfen; eher was sie sagen sollen, als was sie hören dürfen.

Bevor ich mich also als erstes gleich neben die Apostel stelle, die Ärmel hochkremple und mich als Arbeiter in die Ernte schicken lasse, möchte ich mit Euch einen Augenblick innehalten. – Denn vielleicht gehöre ich ja zunächst zu denen, die Jesus ansieht und „im Innersten erschüttert“ ist, weil sie so müde und erschöpft sind.

Stellen wir uns vor, Jesus würde uns fragen, was uns in der Kirche müde und erschöpft sein lässt? Was würdet Ihr antworten?

Dass Ihr der Vertuschung von Schuld, der Verhärtung der Herzen und des Streits in der Kirche müde seid? Oder dass Ihr nur die viele Arbeit, aber nicht die große Ernte sehen könnt?

Ich fürchte, wenn wir in der Kirche nicht zugeben, dass wir müde und erschöpft sind, dann geht es uns wie den Kindern: Wir werden erst überdreht, dann knatschig und schließlich gibt’s Tränen.

Jesus sagt hier nichts zum Umgang mit Müdigkeit und Erschöpfung. Er ruft seine Jünger zu sich. Jeden einzeln. Jeden bei seinem Namen.

Ich stelle mir manchmal die Apostel vor, wie sie da stehen, bei ihrem Namen gerufen, mit ihrer je eigenen Geschichte, mit ihrem je eigenen Gesicht.

Wie werden die Gesichter der Apostel an jenem Nachmittag ausgesehen haben? Einige von ihnen werden auch zu den Müden und Erschöpften gehört haben. Auch ihr Gesicht ist ein Gesicht der Kirche in der Welt.

„Kirche“ kommt von griechisch „Kyriake“ – die dem Herrn Gehörende. „Ihr werdet mein besonderes Eigentum sein“, sagt Gott beim Bundesschluss mit seinem Volk im Buch Exodus (Ex 19,5, 1. Lesung). Nicht im Gegensatz zur Welt. Nein, die ganze Erde gehört mir, sagt Gott zu Mose, „ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“ Die ganze Welt gehört mir, aber ihr hört mich. Die ganze Welt gehört mir, aber ihr hört mir zu.

„Mami, ich bin müde!“ Vielleicht ist es an der Zeit, mit Jesus zu reden, wie das Mädchen mit seiner Mami. Vielleicht ist es an der Zeit, Gott unsere Erschöpfung zu bringen. Vielleicht ist das der Konsens, zu dem wir finden sollen: Eine Ökumene der gesehenen Erschöpften, die sagt: „Herr, wir sind müde.“ Und die ihm wieder neu gehören, ihn hören, und ihm zuhören will.

Und wenn wir ihm lange zugehört haben, dann werden wir auch unsere Namen und die Namen unserer Brüder und Schwestern hören, wenn er sie ruft. Wir werden einander hören und zueinander finden.

Wenn wir ihm gehören und ihn hören, werden wir herausgerufen aus der Erschöpfung und der Müdigkeit. Wir werden nicht nur die viele Arbeit, sondern Seine große Ernte sehen. Und wir werden miteinander aufs Neue losgehen in Seiner Kraft und Seinem Namen und die Menschen lieben, wie er sie liebt.

Fra’ Georg Lengerke