Der Gekreuzigte, die Opfer und die Täter (Karfreitag, Jes 52,13-53,12)

Eine Hospizhelferin erzählte neulich von einer Frau, die sie auf ihrem Sterbeweg begleitete. Die alte Dame hatte viel Schweres erlebt, aber nicht viel über ihren Glauben gesagt. Bei einem ihrer letzten Besuche habe die Patientin schon kaum mehr etwas sagen können. Kurz bevor die Besucherin ging, drehte sie den Kopf zur Seite, wo ein einfaches Kreuz mit dem Gekreuzigten hing. Sie schaute ihn an und sagte leise: „So lieb!“

Bald darauf starb sie. Sie hatte eine Nähe und Liebe des Gekreuzigten wahrgenommen, an die ich seitdem oft denken muss. Was brächte mich dazu, angesichts des Gekreuzigten zu sagen: So lieb!?

Das Erste ist: Jesus erleidet das Leiden, das ich erleide. Jeden Freitagnachmittag um 15 Uhr läutet mein Mobiltelefon. Auf dem Display steht: „Du stirbst meinen Tod.“ Jesus hat sich in seinem Leben, Leiden und Sterben mit mir verbunden. „Er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“, sagt der Prophet Jesaja (Jes 53,4). Er trägt, was ich trage, ihn drückt, was mich drückt, er erleidet, was ich erleide, und er stirbt meinen Tod. Damit ich mit ihm lebe. Schon hier und jetzt. Und einmal jenseits des Todes.

Das Zweite ist: Das zuerst Gesagte gilt auch von meinen Nächsten. Und die haben auch an mir gelitten. Jesus erleidet mit ihnen das Leiden, das ich verursache. Was ich ihnen tue, empfindet auch er. Nicht nur das monströse Böse aus der Presse. Sondern jede Unaufrichtigkeit, jedes böse Wort, jeden bösen Gedanken.

Der Gekreuzigte konfrontiert mich mit meinem Unrecht. Er vertuscht nichts und schont mich nicht. Aber zugleich bleibt er der Liebende, der meine Reue, meine Buße und meine Versöhnung und mich aufs Neue bei sich haben will.

Und das Dritte schließlich: Jesus erleidet, was ich mir selbst antue. Was ich anderen tue, geht auch an meiner Seele ja nicht spurlos vorüber. Was, wenn ich alles das auch selbst erleiden würde, was ich je anderen Menschen „Gutes unterlassen und Böses getan habe, in Gedanken, Worten und Werken“? Ich wäre dem Gekreuzigten- oder besser: er wäre mir sehr ähnlich. „Er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt.“ sagt Jesaja (53,5)

Es ist bei dem Schmerz, der gerade durch die Kirche geht, unendlich schwer geworden, anzunehmen, dass Jesus gekommen ist, um die Sünder zu retten. Solche wie mich. Und solche, die Schlimmeres getan haben.

Vielleicht tun wir uns damit auch deshalb so schwer, weil in der Kirche falsche Rücksichten, die Aufrechterhaltung des Scheins und der Schutz der Institution so viel Unheil angerichtet haben. Wo von Erlösung und Versöhnung gesprochen wird, wächst die Angst und der Verdacht, Täter könnten wieder gedeckt, verschont und verschoben werden und so einfach ungeschoren davonkommen.

Und das darf nicht sein. Der Gerechtigkeit muss genüge getan, jeder Täter bestraft und an Wiederholungen wirksam gehindert werden.

In Therapie und Seelsorge geht es zugleich darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Opfer wurden. Und einen Weg aus der Opferrolle zu finden. Und es geht darum, zu erkennen und ernst zu nehmen, wo Menschen Täter wurden. Und einen Weg aus der Schuld und aus der Sünde zu finden.

Heute feiert die Kirche, dass Jesus, der schuldlose Mensch, genau dahin geht: an die Stelle des Opfers und an die Stelle des Täters. Damit wir mit ihm wieder zueinander und zu unserem wahren Selbst finden.

Deshalb dürfen wir uns selbst oder einander nicht an unserem Opfersein oder Tätersein festhalten. Sonst erreicht uns nicht, was Jesus am Karfreitag tut: Dass er sich dorthin begibt, wo wir und alle Opfer leiden, um unserer Heilung willen. Und dass er sich dorthin begibt, wohin wir und alle Täter sich gebracht haben, um unserer Verzeihung willen.

Wo wir das annehmen, da mag auch unser letztes Bekenntnis sein: So lieb!

Fra’ Georg Lengerke