Liebe Schwestern, liebe Brüder,
so hatten wir uns das nicht gedacht! Gerade noch haben wir an Pfingsten mit den zwölf Aposteln und Maria einmütig im Obergemach auf das Kommen des Geistes gewartet. Gerade noch haben wir gefeiert, dass der Geist Gottes auf die Jünger herabkommt, sodass sie in der Kraft Gottes in alle Welt gehen, um von ihm zu erzählen und in seinem Namen zu wirken. Und heute, nur drei Tage später, wird uns gesagt: Die Jünger waren „sehr ärgerlich“ übereinander. Willkommen im Alltag!
Wir wollen über den Ärger der Jünger nicht einfach hinweggehen. Vielleicht – wer weiß? – ist es ja auch unser Ärger.
„Lass in Deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den anderen links neben Dir sitzen!“, hatten die beiden Söhne des Zebedäus Jesus gebeten. Was mag die Jünger daran bloß geärgert haben? Was ist falsch daran, darum zu bitten bei Jesus zu sein?
Vielleicht hat sie geärgert, dass Jakobus und Johannes sie überholen wollten und einem Platz vor ihnen beanspruchten, vielleicht sogar auf ihre Kosten. Vielleicht hat sie auch geärgert, dass es den beiden Brüdern möglicherweise um irdische Macht an der Seite Jesu geht – vielleicht sogar um Macht über die anderen Apostel. Vielleicht hat sie auch einfach nur geärgert, dass sie nicht selbst auf den Gedanken gekommen sind, früh genug um einen Platz an der Seite Jesu in seiner Herrlichkeit zu bitten …
Jesus weist die beiden Brüder nicht einfach zurecht. Und als die zehn übrigen Apostel sich über die beiden ärgern, geht Jesus darüber nicht einfach hinweg. Er ruft die Jünger zusammen. Dass sie sich ärgern, ist eine gute Gelegenheit, etwas Entscheidendes zu lernen.
Und ich schlage vor, liebe Brüder und Schwestern, dass wir mit ihnen lernen.
„Lass uns in Deiner Herrlichkeit bei Dir sein!“, bitten die beiden Jünger. Was ist falsch an dieser Bitte? Sollen wir denn nicht darum bitten, bei Jesus zu sein? Doch. Unbedingt. Gerade hier in Lourdes tun wir das ja auch. Nicht die Bitte ist falsch. Falsch ist die Vorstellung der Jünger davon, was es bedeutet, bei Jesus in seiner Herrlichkeit zu sein. Und diese Vorstellung wird von Jesus korrigiert.
1. Die erste Korrektur besteht darin, dass wir über das Ziel den Weg nicht vergessen sollen und über den Weg das Ziel nicht aus dem Auge verlieren dürfen.
Jakobus und Johannes wollen bei Jesus in seiner Herrlichkeit sein. Aber sie vergessen darüber den Weg dahin. Sie wollen im Himmel sein und vergessen darüber die Erde. Dabei hatte Jesus gerade noch von seinem Leidensweg gesprochen. Davon, dass er eingetaucht wird in den Streit und den Hass der Welt und dass er den Kelch des Leidens der Welt trinken wird. „Könnt auch Ihr eingetaucht werden und den Kelch trinken?“, fragt Jesus die Jünger.
Hier in Lourdes lernen wir voneinander, den mühsamen Weg des Alltags geduldig und tapfer zu gehen. Schritt um Schritt. Vor Jahren sagte mir hier ein Mann, der wegen einer schweren Nervenkrankheit nur sehr schwer gehen konnte: „Jeder Schritt ist ein kleiner Sieg!“
Und auch in das andere Extrem sollen wir nicht verfallen: dass wir über den Weg das Ziel aus dem Auge verlieren und über die Erde den Himmel vergessen. Das geschieht in der Kirche gerade häufig, dass wir über die Geschäftigkeit des Alltags, über die Lebenswirklichkeit der Menschen und die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche vergessen, worum es im letzten eigentlich geht, nämlich dass wir schon hier und jetzt bei Jesus sind und durch ihn einmal miteinander in den Himmel kommen.
2. Die zweite Korrektur betrifft die Vorstellung der Jünger, bei Jesus zu sein bedeute, von ihm weltliche Macht verliehen zu bekommen.
Damals dachten die Jünger, Jesus würde in Jerusalem ein neues irdisches Reich der Gerechtigkeit und der Liebe errichten. Und sie würden in diesem Reich als Minister des Königs Anteil an seiner Regierung bekommen.
Ähnliche Vorstellungen gibt es seitdem in der Kirche bis heute: wenn wir zu Jesus gehören, so glauben viele, dann müssen wir möglichst viel Einfluss und Macht haben, um die Werte Jesu auch gesellschaftlich und politisch verwirklichen zu können. Wir Christen und die Kirche müssten mächtig sein, um das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen.
Jesus hat das kommen sehen. Schaut Euch an, wie es läuft, sagt Jesus den Aposteln: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen.“ Seit Jahrhunderten machen wir die Erfahrung: Sobald wir uns in der Kirche den Methoden irdischer Macht bedienen, läuft es bei uns genau so schief wie bei den Mächtigen dieser Welt.
„Bei Euch aber soll es nicht so sein“, sagt Jesus, „sondern wer bei Euch groß sein will, der soll Euer Diener sein, und wer bei Euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“
Viele von uns – auch ich – haben das hier in Lourdes wie sonst nirgends gelernt: füreinander da zu sein und einander zu dienen. In der tätigen Hilfe und Pflege, im guten Rat, im Aushalten des Unabänderlichen, im Zeugnis eines tapferen Lebens, in der Bereitschaft, sich helfen zu lassen, und auch im Ertragen derer, die sich beim Helfen noch etwas dumm anstellen…
Wo wir einander dienen, werden alle groß – die Bedienten und die Diener. Die, die wir im Dienst groß sein lassen und die, die im Dienen wachsen.
3. Und die dritte Korrektur schließlich besteht darin, dass wir erkennen: Wir kommen nicht als erstes zu Jesus; als erstes kommt Jesus zu uns. Zuerst sind nicht wir bei Jesus; zuerst ist Jesus bei uns.
„Auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“, sagt Jesus den Jüngern. Als der Sohn Gottes in Maria Mensch geworden ist, da ist er in das Leben eines jeden Menschen eingetreten. Noch bevor wir von ihm gehört und an ihn geglaubt haben.
Gerade hier in Lourdes dürfen wir dieses Geschenk erkennen und annehmen. „Du bist ja schon da bei mir. Du sendest mir Menschen, die mir helfen und mir raten und mir bezeugen, dass Deine Liebe größer ist als alles, was wir einander tun können. Du bist ja schon da und hast mein Leben zu Deinem Leben, meinen Leib zu Deinem Leib, meinen Schmerz und meine Mühe zu Deinen gemacht. Du bist ja schon da bei mir. Nun lass mich auch da sein bei Dir.“
Im Leben und im Zeugnis Mariens ist das vielleicht am deutlichsten geworden: Zuerst jubelt sie, dass Gott auf ihre Niedrigkeit geschaut und Großes an ihr getan hat. Erst so ist sie fähig und bereit, sich aufzumachen für Ihn und sich aufzumachen zu den anderen, um ihnen Jesus und die Freude über sein Kommen zu bringen „Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach Deinem Wort!“
„Lass uns in Deinem Reich bei Dir sein!“, beten die Apostel. Wir wollen mit ihnen lernen, über das Ziel den Weg nicht zu vergessen, mit Jesus einander zu dienen und ihn einzulassen in unser Leben, weil er uns zuvorgekommen ist. Und wir wollen Jesus zusammen mit den Aposteln bitten:
Du bist in Maria Mensch geworden, um bei mir zu sein.
Ich bitte Dich: Lass mich in Deiner Herrlichkeit auch bei Dir sein.
Schon heute, weil Du in mein Leben eingetreten bist.
Schon heute, weil wir zusammen mit Dir füreinander da sein können.
Schon heute, weil wir uns Deiner Liebe anvertrauen dürfen,
die uns über uns selbst hinausführt
in die Freude, die Du schenkst,
und in Deine Herrlichkeit, die hier beginnt
und niemals endet.
Amen.
Fra‘ Georg Lengerke