Die Christusdarstellerinnen Lk 10,38-42

Neulich bei den Passionsspielen in Oberammergau: Der dargestellte Jesus war ein ungeduldiger und unleidlicher, schimpfender und schlecht gelaunter Sozialaktivist, von dem kein freundliches Wort zu hören war. „Eigentlich müsste alles anders sein, aber ihr rafft es nicht!“, das war die unfrohe Botschaft des Nazareners aus Oberbayern. In Oberammergau hat mich einiges fasziniert, aber die Christusdarstellung war missglückt.

Auch in der Kirche geht es um Christusdarstellung. Allerdings nicht im Spielen der Rolle eines längst Verstorbenen. Sondern im Sichtbarmachen eines unsichtbar Gegenwärtigen. „Christus ist unter euch“, schreibt Paulus in der heutigen zweiten Lesung (Kol 1,24-28) der Gemeinde von Kolóssä. Deshalb nennt er sie auch „Leib Christi“.

Was gehört zu dieser Sichtbarmachung? Für Paulus gehört dazu, dass im Leiden der Jüngerinnen und Jünger um Christi willen das Leiden Christi selbst sichtbar wird. Zur Sichtbarmachung Christi gehört dazu, dass mit den Gaben und Ämtern Christi der Kirche gedient wird. Und schließlich wird Christus darin sichtbar, dass in der Gemeinschaft mit Ihm auch jeder Mensch vollkommen zum Vorschein kommt.

Auch Maria und Marta von Bethanien, die beiden mit Jesus befreundeten Schwestern, zeigen uns etwas, was später im Leben der Kirche nach Ostern und Pfingsten zur Sichtbarmachung Christi gehören wird:

Die eine, indem sie auf Jesus und mit Jesus auf Gott den Vater hört. Die andere, indem sie Jesus und mit Jesus den Gästen dient.

Beides gehört zum Leben der Christen und der Kirche:
die Kontemplation und die Aktion,
das Hören seines Wortes und das Tun seines Willens,
die Sorge Jesu für uns und unsere Sorge für ihn – und mit ihm für die Menschen.

Wer das Wort Gottes hört, aber nicht tut, was er hört, der ist ungehorsam. Wer dient, aber nicht hört, was er tun soll, der ist unwirksam oder überfordert (oder beides).

Ein Problem der beiden Schwestern ist, dass sie nicht miteinander reden. Maria schweigt. Marta beklagt sich bei Jesus über ihre untätige Schwester und über sein scheinbar mangelndes Interesse an ihrer ganzen Müh und Not.

Wenn Marta von Maria hören würde, was Jesus und die Seinen sagen, würde sie müheloser, fröhlicher und liebevoller dienen.

Wenn Maria von Marta wüsste, wie es ist, für Jesus und die Seinen zu sorgen, würde sie sein Wort wirksamer und bereiter hören.

Die Kirche gleicht mitunter den beiden sprachlosen Schwestern. – Und sie gleicht dem schlechtgelaunten Jesus von Oberammergau, für den eigentlich alles anders sein müsste.

Je mehr wir Heutigen aber mit Marta hörend dienen und mit Maria dienend hören, um so ähnlicher wird die Kirche Christus sein – dem unsichtbar Gegenwärtigen, der in ihr lebt und durch sie sichtbar wird.

Und wo das geschieht, da wird diesem Christus dann glauben, wer will.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Und wer ist Dein Nächster? Lk 10,25-37

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist eines der bekanntesten im Neuen Testament. Vielleicht auch deshalb, weil es ein universales Gebot beschreibt, das nicht nur Christen als verbindlich ansehen: Geh an der Not deiner Nächsten nicht achtlos vorüber!

„Wer ist mein Nächster?“ fragt ein Gesetzeslehrer. Der wollte Jesus argumentativ in Widersprüche verwickeln. Als das nicht gelingt, will er sich rechtfertigen und fragt nach.

Es mag eine Verlegenheitsfrage sein. Aber unberechtigt ist sie nicht. Sind „meine Nächsten“ meine besten Freunde, die wenigen, die ich zuerst wegen einer existentiellen Begebenheit konsultieren würde? Sind es die, die meiner sozialen Herkunft, meinen Interessen, meinem Geschmack oder ähnlichem am nächsten sind?

Oder ist es jeder Bettler, der mich auf meinem Fußweg zwischen meiner Wohnung und der Kirche in der Altstadt anspricht? Wie weit käme ich dann?

Offenbar sind nicht nur Menschen gemeint, die mir liegen oder ähnlich sind. Und es ist offenbar auch nicht alle Not gemeint, die mir begegnet. Es ist jeder Mensch in meiner Nähe gemeint, der in einer aktuellen Not ist, die mich „ruft“. – Die mich ruft, weil sie keiner so wie ich, nirgends so wie hier, niemals so wie jetzt lindern kann.

Doch hier geht es nicht nur um die Not der Anderen. Sondern auch um meine eigene Not. Ich finde es legitim zu sagen, die Moral von der Geschichte sei: Hilf Deinem Nächsten! Aber in Wirklichkeit geht die Antwort Jesu noch weiter.

Es gibt nämlich eine Sache, über die ich jedes Mal stolpere, wenn ich die Geschichte lese: Die Frage des Gesetzeslehrers lautet: „Wer ist mein Nächster?“ Die Antwort Jesu lautet: Der Nächste des unter die Räuber Gefallenen ist der, „der barmherzig an ihm gehandelt hat“.

Die Antwort Jesu scheint mir eine dreifache zu sein:

Erstens: Der unter die Räuber Gefallene bist auch Du selbst.

Zweitens: Dein erster Nächster ist der, der an Deiner Not nicht achtlos vorüberging.

Drittens: Dass einer an Deiner Not nicht achtlos vorüberging, befähigt Dich, genauso zu handeln und zum helfenden Nächsten Deiner Nächsten zu werden.

In der Darstellung des Barmherzigen Samariters im Rossano-Codex aus dem 6 Jahrhundert ist der Samariter mit einem Heiligenschein (Nimbus) mit Kreuz dargestellt. Das heißt: Der Allernächste des Menschen, der Samariter aller Leiden, auch der verborgensten, ist Christus. Und alle, die nach ihm kommen, werden es zusammen mit ihm – um ihrer Nächsten willen, die in Not sind.

Wie der unter die Räuber Gefallene bin ich
unter die Schläge meiner Gedanken gefallen.
Wund und misshandelt bin ich
am Wegrand auf der Strecke geblieben.
Du aber gehst
an meiner Not nicht
und an keines Menschen Not vorüber.
Du bleibst stehen
und hast Erbarmen mit mir.
Du schenkst mir
stehen zu bleiben
(oder nochmal umzukehren)
und Erbarmen zu haben mit denen,
die Du mir gibst.
Amen.
(nach Andreas v. Kreta, 8. Jh.)

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

“Geh zur Hölle!” Oder wohin? – Ist Gott gerecht oder barmherzig angesichts des Krieges? (Deutschlandfunk, 3. Juli 2022)

“Go to hell!” steht auf Plakaten gegen den Krieg in der Ukraine. Gemeint sind Russland oder sein Präsident. Die Rede von der Hölle wird wieder salonfähig. Auch der theologische Pazifismus scheint in einer Krise zu sein. Ist Gott angesichts des Krieges gerecht oder barmherzig? Davon handelt der Beitrag “Am Sonntagmorgen” im Deutschlandfunk vom 3. Juli 2022 unter https://www.deutschlandfunk.de/am-sonntagmorgen-zur-hoelle-mit-euch-oder-wohin-dlf-7b1712fe-100.html

Fra’ Georg Lengerke

Schaf im Wolfspelz Lk 10,1-12.17-20

Es gibt Worte im Evangelium, die machen mir Angst. Oder sagen wir eher: Unbehagen. So wenn Jesus im heutigen Evangelium 72 Jünger in die Städte voraussendet, in die er selbst gehen wollte. „Geht“, sagt er, „ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“ Das ist es, was mir Unbehagen macht.

Vielleicht hat auch diese Angst dazu geführt, dass Christen den Spieß lieber umgedreht und sich benommen haben, als seien sie wie Wölfe unter die Schafe gesandt worden. Bis hin zu der Karikatur, den Christen und der Kirche ginge es letztlich überhaupt nur darum: als „Wolf im Schafspelz“ die Welt im Namen Jesu mit Furcht und Schrecken zu überziehen und sie sich einzuverleiben wie der Wolf das Schaf.

Der Vergleich mit den Schafen unter den Wölfen sagt uns nicht: die Welt ist böse und aggressiv, ihr aber seid arglos und harmlos. Wir wissen nicht erst seit kurzem, dass es genau andersherum kommen kann.

Mitunter frage ich mich sogar, ob ich nicht vielleicht Angst vor dem Verzicht auf meine Wolfsmethoden habe, vor dem Verlust meines Ansehens unter den Wölfen oder meiner Zugehörigkeit zu ihnen.

Was Jesus sagen will, ist: Ihr müsst damit rechnen, dass man Euch wie mich nicht willkommen heißt, nicht versteht, nicht wertschätzt, dass man Euch wie mich lieber anpassen, einverleiben oder weghaben will.

Und mit dieser Situation sollen wir gerade entgegengesetzt zu dem umgehen, wie es uns intuitiv naheläge. Wir sollen uns weder einfach unterwerfen oder anpassen, noch sollen wir weglaufen, uns in Sicherheit bringen und abschotten. – Wenngleich es immer auch Zeiten und Orte des Rückzugs braucht, in denen nicht jeder was verloren hat.

Wenn ich mich mit anderen „wie Schafe unter die Wölfe“ senden lasse, dann kann und soll ich etwas wagen und mich meinem Unbehagen und der Gefahr von Ablehnung stellen. Ich kann und soll Beziehungen aufbauen und in die Beziehung zu Jesus einladen oder für sie werben. Ich kann und soll Frieden haben und schenken. Ich kann und soll mich den Menschen anvertrauen und mich angewiesen machen, wie es jede Gemeinschaft mit sich bringt.

Und all das wehrlos wie ein Schaf. Das heißt nicht, dass ich nicht auch ringen und streiten soll, wie es die Liebe manchmal verlangt. Jesus verbietet den „geistlichen Kampf“ nicht, sondern fordert und lehrt ihn.

Aber es bedeutet doch, dass ich mir den dauernden Verteidigungsreflex und die aggressive Wehrhaftigkeit gegen wahre und falsche Vorwürfe und das latente Beleidigtsein bei ungerechter Behandlung nehmen lasse.

Die Jünger gehen, wohin Jesus gehen will. Aber nicht bloß nach ihnen. Wohin die Jünger gehen, dahin geht ihr Herr – in und mit ihnen. Diese wehrlose Verbundenheit mit Jesus Christus verleiht „Vollmacht […] über die ganze Macht des Feindes. Nichts wird euch schaden können.“

Doch nicht der Blick nach unten zum Unterlegenen nimmt mir meine Angst und gibt mir die Freude, sondern der Blick zu dem, der mich von Ewigkeit her kennt und nennt und nicht vergisst.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Morgen vielleicht Lk 9,51-62

Einer meiner Kommilitonen im Jura-Studium hatte über seinem Schreibtisch eine Postkarte hängen: „Morgen vielleicht fange ich an.“

Es gibt mehrere Gründe, warum ich etwas verschiebe. Entweder stelle ich mich nicht der Herausforderung oder der Mühe – oder anderes ist wichtiger oder behauptet es zu sein. Meistens ist es eine Mischung von beidem. Das heutige Evangelium handelt von der Frage, was das Erste ist, auf das es ankommt.

Die erste Reaktion der Brüder Johannes und Jakobus auf die Ablehnung Jesu in einem samaritischen Dorf ist der Gedanke an Vernichtung. „Sollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel fällt und sie verzehrt?“

Würden die ersten gedanklichen Reaktionen mancher Menschen auf Kränkung oder Ablehnung wahr, gäbe es hinter ihnen vermutlich eine Spur von Toten. Jesus weist die beiden zurecht und geht weiter. Als wollte er sagen: Warten wir‘s ab. Noch ist nicht aller Tage Abend.

Ein Mann sagt Jesus, er wolle ihm hier und jetzt folgen, wohin immer er ginge. Offenbar stellt er sich vor, im Hause Jesu untergebracht zu werden. Jedenfalls muss Jesus ihn korrigieren: Selbst Füchse und Vögel haben ihren Ort – der Menschensohn nicht. Es wird sehr anders sein als Du denkst.

Dann wird von zweien erzählt, die Jesus zwar folgen wollen, aber vermeintlich Erstwichtiges „zuerst“ erledigen wollen.

Das Begraben des Vaters ist heilige Pflicht. Doch schärfer könnte die Reaktion Jesu kaum sein: „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“ Das ist unerhört und grausam, dass hier einer sein Wort über die heilige Pflicht stellt.

Aber das Gehen und Leben mit Jesus ist nicht die Alternative zu diesem Recht oder jener Pflicht. Es ist die Weise, wie dieses und jenes und alles seine Richtung, seine Bestimmung, seinen Sinn bekommt. Mit Jesus wäre die Beerdigung eine andere geworden. Lebendig tot sind in Jesu Augen jene, die dauernd alles Mögliche andere tun, um nur nicht das Leben zu wählen. „Morgen vielleicht fange ich an.“

Und schließlich ist da noch der, der erst Abschied von den Seinen nehmen will. Komisches Wort im Deutschen, „Abschied nehmen“. Vielleicht hätte er „Abschied geben“ statt „Abschied nehmen“ sollen. Weil nichts mehr mitzunehmen ist, worauf es noch ankäme.

Da will einer noch eine Zeit mit den Seinen statt mit Jesus verbringen. Ohne die Anteilnahme am Leben des Menschgewordenen, ohne die Perspektive, die Liebe, die Leidensbereitschaft, den Himmelshorizont Gottes. Aber es gibt kein Zurück mehr, sagt Jesus, wenn Gott mit einem und einer mit Gott etwas Neues begonnen hat.

Ohne die Gemeinschaft mit Jesus nichts mehr tun wollen, darauf käme es an. Weil nichts ohne sie mehr Sinn macht.

„Morgen vielleicht fange ich an“, stand auf der Postkarte meines Freundes. „Heute bestimmt fängst Du an mit mir“, schreibe ich auf eine Karte und hänge sie über meinen Schreibtisch. Und nach den Beerdigungen und Abschieden und danach, wie es weitergeht mit Christsein und Kirche, nach all dem schauen wir dann.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie