Augenschein
Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt.
Sieh‘ sie an, die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt,
Es wäre je Sommer gewesen.
Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt,
Es könnt je wieder Sommer werden.
Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,
Ist die sicherste Wahrheit auf Erden.
Es war der letzte Herbst des Schauspielers und Regisseurs Ernst Ginsberg, als er dieses Gedicht seiner Pflegerin 1964 diktierte. Er litt an einer unheilbaren Nervenkrankheit mit fortschreitender Lähmung. Von der geliebten Sprache hatte er schon Abschied genommen. Er diktierte in Morsezeichen mithilfe seiner Augenlider.
Der Herbst führt uns die Vergänglichkeit der Natur und unseres eigenen Lebens vor Augen. In dieser Zeit feiern katholische Christen zwei Feste, die mit unserer Beziehung zu den Toten zu tun haben: Gestern, am 1. November, das Fest Allerheiligen. Und heute, am 2. November, das Fest Allerseelen. Beide handeln davon, dass wir über den Tod hinaus füreinander da sein können.
Schon unter uns Lebenden gibt es ja eine Solidarität des Gedenkens oder des Gebetes. Sage ich zu jemandem: „Ich denke an Dich“, dann will ihm ja nicht mitteilen, was für ein netter Kerl ich bin, dass ich ihn nicht vergesse. Irgendwie drücken sich darin das Vertrauen und die Hoffnung aus, dass solches Gedenken an den anderen wirkt und gute Folgen hat. Solches Gedenken nennen die Christen Gebet. Es hat einen Adressaten. Es richtet sich an Gott.
Das Gebet für die Verstorbenen, an die wir denken, gehört zum christlichen Glauben dazu. Denn dieser Glaube sagt, dass Gott zu einem jeden von uns ein unsterbliches Ja sagt. Und etwas in uns entspricht diesem unsterblichen Ja. Dieses unsterbliche „Etwas“ ist die Seele des Menschen. Meine Seele ist zusammen mit den „Seelen aller“ zur unzerstörbaren Gemeinschaft mit Gott befähigt und gerufen.
Wenn es nun unter uns Lebenden Sinn macht, aneinander zu denken oder füreinander zu beten, warum sollte das nicht auch zwischen uns und den Verstorbenen gelten? Dieses Füreinander-da-Sein geschieht in zwei Richtungen. An Allerheiligen feiern wir, dass die bei Gott vollendeten Verstorbenen (eben „alle Heiligen“) an uns denken und für uns beten. An Allerseelen sind wir es, die an die Verstorbenen denken und darum bitten, dass sie ihren Weg vollenden und bereit sind, Gott zu schauen und bei ihm in seiner Freude zu sein.
Vor einiger Zeit sprach ich mit einem Studenten. Er lebt in Berlin. Seine Verlobte macht ein Praktikum in New York. Er erzählt mir, dass sie auf verschiedene Weise miteinander kommunizieren. Aber am berührendsten sei für ihn eine seltene nächtliche Verabredung. Wenn das Wetter und der Kalender es zulassen, verabreden sich die beiden, zur selben Zeit auf den Mond zu schauen. In Berlin am frühen Morgen, in New York zeitgleich 6 Stunden früher am späten Abend. „Es ist seltsam“, sagt er, „wir schauen miteinander auf Dasselbe, obwohl wir tausende Kilometer voneinander entfernt sind. Und theoretisch könnte man von dort uns beide sehen, die wir auf verschiedenen Kontinenten leben.“
Ich denke, so ähnlich können wir uns unsere Verbundenheit bei Gott über den Tod hinaus vorstellen. Wir empfinden eine Nähe und sind einander doch unerreichbar. Wir richten uns auf Gott aus, der mitunter fern scheint, und uns doch näher ist, als wir selbst es uns sind. Auf einen Gott, der uns sieht und im selben Augenblick unsere Lieben, die uns vorangegangen und schon gestorben sind.
Bei Ihm sind wir Lebenden mit den Verstorbenen wieder beisammen. Wir denken aneinander. Wir bitten füreinander. Und wir freuen uns aufeinander. Mitten im Herbst der Welt. Es wird wieder Sommer werden –
„und grad diese gläubige Narrheit, Kind / ist die sicherste Wahrheit auf Erden.“