30.10.2022
Gerade war ich für einige Tage in Brügge. Die mittelalterliche Stadt, die Kirchen und Museen, der Blick vom Belfried über Stadt und Land und die Gespräche mit einem Freund waren ein wichtiger Perspektivenwechsel.
Wer den Überblick haben will, braucht einen Perspektivenwechsel. In der Landschaft kann das eine Anhöhe sein. In den Herausforderungen unseres Alltags eine Viertelstunde Reflexion am Tag. Oder auch einige Tage alle paar Monate. Wir brauchen solche Perspektivenwechsel, um zu erkennen, wo wir stehen, worauf es ankommt und worum es uns gehen soll.
Für den Zöllner Zachäus ist der Ort des Perspektivenwechsels ein Baum. Auf den klettert er, um Jesus zu sehen. Dem kleinen Zöllner versperren die Leute den Blick. Die Leute, schreiben die Kirchenväter, erinnern uns an die Laster, die uns den Blick auf das Gute und den Guten versperren, oder an die Sorgen, die uns die Aussicht auf die Freude nehmen.
Manchmal kann der Ort des Perspektivenwechsels aber auch den Blick verstellen oder in die verkehrte Richtung lenken. Zum Beispiel wenn jemand die Sicht von dort für die einzige hält. Oder wenn er seine dort oben vorgestellte Welt mit der realen Welt verwechselt und in sie nicht mehr zurückkehren will.
„Komm schnell herunter!“ ruft Jesus dem Zöllner zu. Komm runter vom Baum auf den Boden. Komm runter in den Alltag. Komm runter zu den Leuten, die du betrogen hast und die dich verachten. Komm runter dahin, wo das wirkliche, raue, manchmal sogar gefährliche Leben ist. Komm runter dahin, wo ich bin.
Mich erreicht dieses „Komm ´runter!“ immer wieder sehr. So richtig und wichtig der Perspektivenwechsel, die Pause, ein zeitweiliger Entzug sein kann – irgendwann heißt es dann doch: Komm runter! Wenn ich mich empöre; wenn ich mich in meiner Opferburg verbarrikadiere; wenn ich meine Sicht für die einzige Perspektive halte… Vor allem aber dann, wenn ich mich in eine Scheinwelt flüchte, höre ich den Herrn sagen: Komm schnell herunter!
Gott hat selbst genau das getan, was er jetzt von Zachäus will: Er ist heruntergekommen. In einem Weihnachtslied bitten wir sogar darum: Komm herunter!: „O komm, ach komm vom höchsten Saal, Komm tröst‘ uns hier im Jammertal“
Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Christus steigt aus der seiner Wirklichkeit in unsere Scheinwelt herunter. Wir sollen aus unserer Scheinwelt in seine Wirklichkeit heruntersteigen.
Christus steigt aus der Wirklichkeit Gottes in unsere Scheinwelt hinab, in der er Zachäus und uns die Wahrheit des von Gott geliebten Menschen offenbart. Zachäus und wir sollen aus unserer Scheinwelt in die Wirklichkeit der Liebe Gottes hinabsteigen, wo uns mit Zachäus das Heil der menschgewordenen Liebe Gottes zuteilwird.
Gott will bei uns Menschen sein, damit wir Menschen zu Gott kommen. „Heute muss ich in deinem Haus bleiben.“ Wer dorthin heruntersteigt, wohin Gott als Mensch heruntergestiegen ist und wie Zachäus den Menschgewordenen einlässt in sein Lebenshaus, der steigt auf in die neue Realität der Liebe Gottes – zu ihm und zu seinem Nächsten.
Aus Brügge kommend, bin ich nun wieder im Alltag. Und ich frage mich täglich, wo das ist, wohin ich heute mit ihm heruntersteigen soll und wie er zu Gast sein will in meinem Lebenshaus.
Fra‘ Georg Lengerke
BetDenkzettel