Hinter die Blindenbinde sehen 1 Sam 16,1b.6–7.10–13b

Oft überrascht mich die Aktualität eines
uralten Wortes aus der Heiligen Schrift für unsere Zeit. Zum Beispiel das
Bußgebet des Daniel, das in der Fastenzeit häufiger gelesen wird: „Ach, HERR,
wir sind geringer geworden als alle Völker. In aller Welt sind wir heute wegen
unserer Sünden erniedrigt. Wir haben in dieser Zeit weder Vorsteher noch
Propheten und keinen, der uns anführt.“ (Daniel 3,37.38)

Das beschreibt für mich gut, wie es gerade um
die Kirche steht. Wir sind überall wegen unserer Sünden erniedrigt. Und wir
haben einen eklatanten charismatischen Führungskräftemangel. Übrigens nicht nur
in der katholischen Kirche, sondern auch in Kirchen und Gemeinschaften, die
andere Zulassungsbedingungen zu ihren anders verstandenen Ämtern haben.

Ich weiß, es gibt eine gefährliche Sehnsucht
nach dem „starken Mann“. Auch in der Kirche. In der Politik zeigt die sich
häufig am Vorabend von Terrorregimen. Der erhoffte messianische Heilsbringer
entpuppt sich als Verderber.

Vielleicht ist es die Angst vor solcher
Überhöhung und Verderbnis, die Menschen misstrauisch werden lässt. Manchmal so
sehr, dass sie jede Macht des Missbrauchs, jede Weisheit der Besserwisserei,
jede Weisung der Übergriffigkeit verdächtigen und jeden Unterschied in der
Begabung letztlich für Ungerechtigkeit halten.

Diese Angst mag auch der Grund dafür sein,
den Mangel an prophetischen und vollmächtigen, weisen und glaubwürdigen Frauen
und Männern, an vertrauenswürdigen Vater- und Mutterfiguren gar nicht erst zu
benennen oder zu beklagen, und nicht auszusprechen, dass wir „in dieser Zeit
weder Vorsteher noch Propheten [haben] und keinen, der uns anführt“.

In einer vergleichbaren Not schickt Gott im
Ersten Buch Samuel (16,1-13) den gleichnamigen Propheten in das Haus des Bethlehemiters
Isai, um denjenigen seiner Söhne zum König zu salben, den der Herr dem
Propheten zeigen würde. Nacheinander treten die Söhne, einer schöner und
stattlicher als der andere, vor ihn hin. Keiner ist der Erwählte. Bis der
jüngste, aus dem Blick geratene Sohn David von der Weide und den Schafen
herbeigeholt ist und Samuel Gott sagen hört: „Auf, salbe ihn! Denn er ist es.“

Woher weiß Samuel das? Weil die Kriterien
Gottes andere sind: „Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht.
Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der HERR aber sieht das Herz.“

„Man sieht den Leuten nur vor den Kopf“, sagt
der Volksmund. Vielleicht aber auch deshalb, weil das einfacher und
schmerzloser ist, weil wir mehr nicht sehen wollen. Nelly Sachs schreibt:

„Samuel sah
hinter der Blindenbinde des Horizonts –
Samuel sah –
im Entscheidungsbereich
wo die Gestirne entbrennen, versinken,
David den Hirten
durcheilt von Sphärenmusik.“

Je mehr wir in Parteien und Lagern denken und
darauf schauen, woher einer kommt, zu wem einer gehört, wie einer „sich macht“
– umso schmerzlicher werden uns jene fehlen, die mit uns die Wege Gottes für
die Kirche in dieser Zeit finden, wählen und gehen können.

Um die auszumachen, braucht es Leute wie
Samuel, die mit Gott „das Herz sehen“. Also die Mitte der Person, die Reinheit
ihrer Absicht, ihre Offenheit für Wort und Wirken Gottes und für die Führung
des Heiligen Geistes, ihre Güte und Wahrhaftigkeit.

Darum bete ich in dieser Fastenzeit: um Menschen,
die hinter die „Blindenbinde des Horizonts“ sehen und auf die abgelegenen
Weiden der Kirche, um jene zu finden, deren Herzen begabt und bereit sind, zu
raten und zu erziehen, zu leiten und zu lehren –

und vor allem in alledem zu lieben.

Fra' Georg Lengerke