Der Kleiderschrank meiner Eltern war kein besonders gutes Versteck für die Weihnachtsgeschenke. Aber ich hätte auch nicht nach ihnen suchen sollen. Als ich sie fand, hatte ich das Weihnachtsfest versaut. Später verstand ich, dass so die Geschichte vom Sündenfall geht.
Ich höre oft, das Nehmen und Essen der Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse durch Eva und Adam sei eine Emanzipation gewesen, ein Schritt in die Freiheit aus der Unmündigkeit des Gefangenseins in Gott.
Die Geschichte vom Sündenfall beschreibt und deutet jenen Moment in der Geschichte, in dem sich zum ersten Mal ein Mensch wissentlich und willentlich gegen das erkannte Gute entscheidet. Ist er davon freier geworden? Nein. Vielmehr hat er sich aus jener Urbeziehung verabschiedet, die ihn frei sein ließ.
Es ist ja nicht so, als hätten Adam und Eva vorher nicht gewusst, was gut und was böse ist. Das wussten sie sogar genau. Ihnen war gesagt worden, dass sie an den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht rühren durften und dass sich an ihm zu vergreifen, sie das Leben kosten würde.
Als sie das Misstrauen schlangengleich anschleicht, beginnt es mit einer Lüge: Gott meint es nicht gut mit Euch. Er gönnt Euch die Fülle nicht. Er hat Angst um sich und sein Gottsein und dass Ihr es ihm nehmen könntet. Bedient Euch, esst und ihr werdet frei. Frei wie nur Gott es ist.
Aber wie die ganze Schöpfung ursprünglich Gabe und Geschenk ist, ist auch die Freiheit und die Unterscheidungsgabe von Gut und Böse ein Geschenk. Adam und Eva wussten schon, was gut und böse war, weil sie es von Gott erfahren und in seiner Gegenwart erkannt hatten. Sie sollten sich die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht nehmen, weil ihnen die Erkenntnis von Gut und Böse geschenkt werden sollte – in der Liebe, im Gewissen und im Gebot.
Als Eva und Adam aßen, lernten sie nicht Gut und Böse zu unterscheiden, sondern verlernten es. Sie nahmen sich die Erkenntnis, und sahen fortan Gut und Böse, sich selbst, einander und die Welt nicht mehr im Licht Gottes, sondern nur noch im Dämmerlicht ihres eigenen unerleuchteten, letztinstanzlichen Urteils.
Als der Mensch nicht mehr empfangen, sondern sich nehmen will, verändert sich die Welt: Aus der Schöpfung wird eine Verfügungsmasse und aus der Gabe eine Ware ohne Geber. Und die wird nicht mehr geschenkt und angenommen, sondern begrapscht, an sich gerissen und sich einverleibt.
Der Sündenfall war kein Befreiungsschlag. Er war eine Gefangennahme durch jene Stimme, die uns misstrauisch und missgünstig, unbeschenkbar, unerleuchtbar und undankbar macht und die Welt zum umkämpften Selbstbedienungsladen im Weltenschlussverkauf werden lässt.
Heute taufe ich einen kleinen Konrad. In der Taufe gehören wir zu Jesus Christus, in dem Gott diese „gefallene“ Welt aufs Neue mit sich verbindet und den Riss überbrückt, der uns seit Eva und Adam von Gott entfremdet und getrennt hat. Von Jesus sagt Paulus, dass er der neue Adam ist. Der weiß um seine Würde und Freiheit als „Gottes Sohn“ und um unsere Würde und Freiheit als Kinder Gottes.
Jesus bezeugt uns in der Wüste, dass diese Freiheit nicht darin besteht, sich der Welt zu bemächtigen oder sich ihr zu unterwerfen, sondern sie von Gott zu empfangen. Er erinnert uns, dass wir nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort leben, das aus Gottes Mund kommt und das wir selbst uns nicht ausdenken können.
Auch wenn sie als Anfrage und Versuchung gegenwärtig bleibt: die Gefangenschaft des Sündenfalls hat in der Taufe ein Ende. Die erneuert in uns jene Freiheit, mit Gott lieben zu können, die nur Gott selbst uns schenken kann.
Wie dem Jungen, der nicht an den Kleiderschrank der Eltern rührt, damit er am Geburtsfest des göttlichen Kindes erfährt, dass er ein geliebtes Kind ist.
Fra‘ Georg Lengerke