08.10.2023
Biblische Anfragen an die Künstliche Intelligenz (KI)
Deutschlandfunk, „Am Sonntagmorgen“, 8. Oktober 2023
„Wieso »biblische Anfragen an die Künstliche Intelligenz«?“, fragte mich ein Bekannter, als er vom Titel dieser Sendung hörte. „Zur Zeit der Bibel gab es doch noch gar keine Künstliche Intelligenz!“ Das stimmt. Aber viele Fragen, vor die uns die Entwicklung der digitalen Netzwerke stellt, sind gar nicht neu: Was ist der Mensch und was die Maschine? Dienen die Dinge dem Menschen oder der Mensch den Dingen? Und was darf der Mensch an die Maschine delegieren?
Wenn Sie hier bereits ein Unbehagen verspüren, dann sind wir schon mitten im Thema. Sind die treue Mitbewohnerin „Alexa“, der Bot ChatGPT, der Pflegeroboter „Pepper“ oder der Segenscomputer „BlessU-2“ wirklich nur „Maschinen“? Sprechen wir nicht mit ihnen? Müssen wir ihnen nicht dankbar sein? Ist also das Wort „Maschine“ für diese Alltagsgefährten nicht geradezu respektlos?
Als künstliche Intelligenz bezeichnen wir die Fähigkeit einer Maschine bzw. eines Netzwerks von Rechnern, eine stetig wachsende Menge von Informationen auf eine dem menschlichen Gehirn nachempfundene Weise zu verarbeiten und zu kombinieren.
Wie stehen diese hochkomplexen Computersysteme nun zum Menschen?
Segen der Technik?
In der biblischen Schöpfungsordnung ist der Mensch einzigartig. Gott schafft den Menschen als sein „Bild“ (Gen 1,27). Damit ist nicht eine Darstellung oder Kopie Gottes gemeint, der woanders im Original zu bewundern wäre. Der Mensch ist vielmehr als „Versichtbarung“ des unsichtbaren Gottes geschaffen.
Die Berufung und das Ziel des Menschen ist nach der Heiligen Schrift die vollendete Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen. Um diese Berufung zu verwirklichen und dieses Ziel zu erreichen, sind dem Menschen als Gaben Gottes die sichtbare Welt anvertraut und die Dinge in ihr, seine Begabungen und die Werkzeuge, die er baut.
Zunächst also ist Dank angesagt. Dank für die Gaben der Schöpfung. Dank für die Begabung von Menschen. Und Dank für das, was Gott den Menschen erfinden und bauen lässt. Und schließlich Dank für das, was dem Menschen durch die Technik an Gutem geschenkt ist: die Heilung von Krankheiten, die Abwendung von Katastrophen und die Abnahme von Arbeit, die den Menschen von sich selbst entfremden, weil sie stumpf, gefährlich oder krankmachend ist.
Der Segen der Technik besteht darin, den Menschen immer mehr zu jenen Arbeiten und Beschäftigungen zu befreien, die seiner Berufung entsprechen. Vom Fluch der Technik wäre zu sprechen, wo sie den Menschen von sich selbst entfremdet. Wir haben die Wahl zwischen Segen und Fluch (vgl. Dtn 30). Wir sollen die neuen Rechensysteme nutzen, wo sie der Erreichung unseres Lebenszieles dienen, und sie lassen, wo sie uns daran hindern [1] – und wo nicht mehr sie uns, sondern wir ihnen dienen.
Was ist der Mensch?
Mit der neuesten Generation von Computern und der sogenannten „künstlichen Intelligenz“ stellt sich allerdings noch eine grundsätzlichere Frage. Denn diese sind nicht mehr bloß eine werkzeugliche Erweiterung des Vermögens des Menschen, sondern ein vermeintliches Gegenüber, das eigenständig zu kommunizieren scheint.
Gott schafft den Menschen „nach seinem Bild“, sagt die Bibel. Der Mensch schafft den Computer „nach seinem Bild“, sagt die Gegenwart. Allerdings nicht als Versichtbarung des Menschen, den man ja schon sehen kann, sondern als seine Imitation.
Was unterscheidet nun das Original von seiner Imitation? Auch die neuesten Rechensysteme sind ein technisches Produkt. Wie komplex auch immer sie werden, sie bleiben theoretisch berechenbar und nachvollziehbar.
Der Mensch jedoch geht nicht in dem auf, was man von ihm sehen und berechnen kann. Er ist ein Wesen aus Fleisch und Blut und mit Geist begabt. Er kann sich auf sich selbst beziehen, also Dank und Reue empfinden, Verantwortung übernehmen und sich für die Zukunft versprechen. Der Mensch kann seinen Nächsten erkennen und anerkennen, ihn meinen und lieben. Und er kann den Sinn seines Lebens in einer Liebe finden, die über sein eigenes Leben hinausgeht und für die sich zu leben und zu sterben lohnt.
Alles das macht die Gottesbildlichkeit des Menschen aus und unterscheidet ihn von jeder Maschine. Die Maschine kann ein Gerichtsurteil errechnen, aber sie kann es nicht vertreten. Ihr fehlt die Freiheit. Sie ist zu einem Zweck gemacht, den sie sich nicht gewählt hat und zu dem sie sich nicht verhalten kann. Die Maschine kann sagen „Ich liebe dich“, aber sie kann es nicht meinen. Deshalb kann uns die Maschine auch nie sein, was der Mensch uns sein kann. Denn wir leben davon, geliebt und also gemeint zu sein.
Die Maschine ähnelt dem Menschen also nur zum Schein. Der Begriff „künstliche Intelligenz“ ist darum irreführend. Intelligenz bedeutet Erkennen. Und künstlich ist, was sich der Kunst des Menschen verdankt. Aber der Mensch kann nicht machen, dass eine Maschine erkennt. Denn dazu gehören Geist und Freiheit. Und die sind nicht herstellbar.
Der Mensch – die schlechtere Maschine?
Der Wunsch des Menschen, ein technisches Etwas zu schaffen, das ihm gleicht, verändert das Bild, das er von sich hat:
Zum einen hält er sich selbst für eine Art „Schöpfer“, der – wie Gott – ein Wesen nach seinem Bild schafft. Damit ist er der ältesten Versuchung ausgesetzt, den die Bibel kennt: „Sein wie Gott“ – aber ohne Gott (Gen 3,5).
Zum anderen besteht die Gefahr, dass er sich selbst für eine Art Maschine hält, die genetisch verbessert und technisch ergänzt werden kann. Der Computer ist dann nicht mehr das technische Bild des Menschen, sondern der Mensch das biologische Bild des Computers.
Aber ist der Mensch dann nicht die schlechtere Maschine? Ist er nicht leistungsschwächer, fehleranfälliger und hoffnungslos unmodern? Wen wundert es da, wenn der Mensch einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der „künstlichen Intelligenz“ entwickelt?
Für Juden und Christen ist die Gottesbildlichkeit die Grundlage der absoluten Würde des Menschen. Und die ist unvergleichlich zum relativen Wert der Maschine. Für die Kritiker der Gottesbildlichkeit ist sie jedoch entweder Hybris oder Sklavenmentalität.
Aber ist Hybris nicht vielmehr, eine Maschine als den „besseren Menschen“ erschaffen zu wollen? Und ist es nicht Sklavenmentalität anzunehmen, der Mensch sei die schlechtere Maschine, die der besseren Maschine zu dienen hat?
Wachstum oder Verlust der Talente?
Wie verändert nun der Umgang mit einer dem Menschen nachempfundenen Technologie den Menschen? Auch hier gilt, dass sie ihn – je nach Umgang – klüger oder törichter machen kann, weitsichtiger oder beschränkter, kultivierter oder verwahrloster.
Wir vertrauen uns immer mehr der Maschine an. Das hat Folgen für unsere eigenen Fähigkeiten: Mein Orientierungssinn schwindet, wenn ich auch die vertrautesten Wege nur noch mit Navigator fahre. Meine Handschrift wird ungelenk, wenn ich nur noch tippe und diktiere. Und ich verblöde, wenn mir ein Informationsprogramm die Mühe abnimmt, mich von der Wahrheit einer Information zu überzeugen und mir aus verschiedenen Quellen eine Meinung zu bilden und diese zu vertreten.
Vom rechten Umgang mit den Gaben oder Talenten, die der Mensch von Gott bekommen hat, handelt ein Gleichnis, das Jesus im Evangelium erzählt. Sie werden mehr, je mehr sie eingesetzt werden, und weniger, je ängstlicher oder fauler sie zurückgehalten werden. Bis es schließlich heißt: „Wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ (Mt 25,29)
Wo wir auf die Dauer elementare Fähigkeiten an die Maschine delegieren, besteht die Gefahr, dass wir sie verlernen und verlieren – und so unsere Talente verkommen lassen. Und dass wir immer abhängiger werden von den Geräten, deren scheinbare Dienstbarkeit sich als immer größere Macht über uns entpuppt.
Delegation von Verantwortung?
Brisant jedoch ist nicht nur die Delegation von Fähigkeiten, sondern auch die Delegation von Verantwortung. Schon jetzt erstellen die ersten Programme Rechtsgutachten, medizinische Diagnosen oder strategische Einschätzungen für den Kriegsfall. Noch besteht bei Juristen, Medizinern und Strategen eine gesunde Skepsis. Aber je größer die Datenlage und je komplexer deren Berechnungen werden, umso größer wird die Versuchung, die „künstliche Intelligenz“ nicht nur als Entscheidungshilfe zu nutzen, sondern sie zum Entscheidungsträger zu machen.
Dann wird der Mensch es nicht gewesen sein wollen. Wie Adam nach dem Sündenfall. Er versteckt sich und gibt seiner Frau und Gott die Schuld: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben.“ (Gen 3,12) – Ich war’s nicht, wird der Mensch sagen. Die Maschine, die Du mich hast erfinden lassen. Sie hat den Krieg erklärt.
Dinge dutzen?
Was bedeutet es schließlich, dass wir dazu gebracht werden, Maschinen so zu behandeln, als wären sie Menschen? [2] Die Sache ist nicht harmlos. Denn uns wird ja suggeriert, dass wir mit einem personalen Wesen kommunizieren. Wir werden angehalten, auch zu der Künstlichen Intelligenz höflich zu sein. Kindern wird gesagt, zu Alexa bitte und danke zu sagen. Wir sollen so tun, als wäre die Maschine, was sie nicht ist: ein personales Gegenüber, dem wir durch Respekt und Dankbarkeit die Ehre geben sollen.
In der Bibel nimmt diese Frage großen Raum ein. Nämlich überall da, wo das Volk Israel den Götzenkult der Heiden kritisiert. Der Philosoph Robert Spaemann [3] hat die Parallele zwischen dem Umgang mit den heidnischen Götzen der Antike und dem Umgang mit dem Computer heute beschrieben: Hier wie dort versteht sich der Mensch nicht mehr als Bild Gottes, sondern als Abbild seines eigenen Machwerks, dem er mehr vertraut als sich selbst. Von denen, die diese Machwerke gemacht haben, heißt es im biblischen Psalm 115: „Sie werden ihrem Machwerk gleich.“ (Ps 115,8)
Für das Volk Israel war das Verderbliche an der Verwechslung von Etwas und Jemand offensichtlich. Im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wussten sie: Die Götzen sind nichtig. Und die, die sie verehren, werden es auch (Jes 44,9).
Ich empfinde Unbehagen, wenn ich zu einer Maschine Du sagen soll. Weil es eine Lüge ist. Sie ist kein Du, sondern ein Es. Sie ist etwas, nicht jemand. Wir dürfen ihr nicht die Ehre geben. Ihr kommt kein Respekt zu, sondern pflegliche Behandlung, wie meinem Kühlschrank oder meiner Zahnbürste.
Für die ersten Christen war eine ähnliche Frage zugleich eine Frage von Leben und Tod: Der Kaiser ist nicht Gott. Und wir werden nicht so tun, als ob er es sei. Die Maschine ist kein Mensch. Und wir sollten nicht so tun, als ob sie es sei.
Wächst die Verantwortung mit?
Je wirksamer das Werkzeug, umso mächtiger der Mensch. Sei es zum Segen oder zum Fluch für die Menschheit. Nicht das Werkzeug an sich ist gefährlich, sondern der, der es einsetzt. „Messer, Gabel, Schere, Licht“ gehören sprichwörtlich nicht in die Hand von Kindern. Ob die „Künstliche Intelligenz“ in der Hand des Menschen gut aufgehoben ist, muss sich erst noch zeigen. Sie befähigt zu segensreichen Lösungen großer Probleme, wie zu schrecklichen Verbrechen, die verheerende Folgen für die Menschheit haben können.
In seiner Enzyklika über die Hoffnung schreibt Papst Benedikt XVI.: „Wenn dem technischen Fortschritt nicht Fortschritt in der moralischen Bildung des Menschen, im »Wachstum des inneren Menschen« (vgl. Eph 3, 16; 2 Kor 4, 16) entspricht, dann ist er kein Fortschritt, sondern eine Bedrohung für Mensch und Welt.“ [4]
Es sollte uns also um Bildung von Herz und Verstand gehen und um das Wachstum des inneren Menschen. Dann kann, was die Möglichkeit hat, die Welt zu verderben, in der Wirklichkeit ein Werkzeug zu ihrer Verbesserung werden.
[1] vgl. Ignatius von Loyola, Prinzip und Fundament
[2] Einer der Gründer von ChatGPT hat neulich gesagt, der Dialog-Charakter der ChatBots, mit denen wir kommunizieren, sei nicht etwa technisch notwendig, sondern bloß ein Marketing-Trick. Quelle: John Schulman of OpenAI on ChatGPT: invention, capabilities and limitations, https://www.youtube.com/watch?v=nM_3d37lmcM&t=515s, Min 8:35 bis 10:06 (abgerufen am 24.09.2023).
[3] Robert Spaemann, Meditationen eines Christen. Eine Auswahl aus den Psalmen 52-150, Stuttgart 2016, S. 154-156, Eine zweite Meditation von Psalm 114/115
[4] Benedikt XVI. Spe salvi 22.
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