Staunen und lieben 1 Kor 2,6-10

Nichts Neues! Das ist eine gute Nachricht bei der Krebs-Nachsorge. Und eine schlechte Nachricht für die Verschütteten im Erdbebengebiet.

„Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, sagt der Prediger im Buch Kohelet (1,9). Stimmt das?

Natürlich sehen und erfahren wir Neues. Aber dieses „Neue“ gab es schon zuvor – nur kannten wir es nicht. Jeder Mensch ist „neu“, aber rein naturwissenschaftlich betrachtet besteht er doch aus den gleichen Elementen wie alle Menschen vor ihm – nur halt in jeweils neuer Kombination. Menschen denken sich „Neues“ aus – aber nur mithilfe von schon Vorhandenem. Es gibt also „Neues“ aus „Altem“. Aber wirklich vollkommen Neues?

Paulus spricht im Ersten Korintherbrief über den Inhalt der christlichen Botschaft. Die besteht nicht in Informationen über Gott und die Welt, nicht in Verhaltensweisen oder Lebensweisheiten. Sie kommt aus der Begegnung mit etwas völlig Neuem, mit etwas, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist“. Es ist die Begegnung mit dem „Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes“.

„Geheimnis“ ist für Paulus nicht eine zurückgehaltene Information oder ein verborgener Sachverhalt. Das griechische Wort ist „mysterion“. Und dieses „Mysterium der verborgenen Weisheit Gottes“ beginnt sich im Leben und Sterben Jesu zu „enthüllen“.

Das Mysterium bleibt unbegreiflich. Aber es ist nicht unverständlich. Der Mensch kann es nicht umfänglich erfassen. Aber es spricht den Menschen dennoch als geistiges und vernunftbegabtes Wesen an. Warum? Um ihn zu „verherrlichen“, sagt Paulus. Um ihn also im Lichte Gottes in seiner ganzen noch unbekannten Schönheit und Größe zum Vorschein zu bringen.

Mit dem Mysterium ist es wie mit einer Quelle. Etwas schenkt sich, was anders als geschenkt nicht zu haben ist. Wer versucht, sie mitzunehmen, hat nur eine Pfütze in der Hand (Jörg Splett).

In der Begegnung mit Jesus „enthüllt“ sich die Weisheit Gottes. Und an der scheiden sich die Geister, sagt Paulus. Die „Machthaber dieser Welt“ haben sie nicht erkannt. Sie halten den Bereich des Machbaren für die ganze Wirklichkeit. Und ihr Gemachtes für das einzig Neue. Jesus ist für sie „nichts Neues“. Nur irgendein weiterer Aufrührer, Gotteslästerer und Abtrünniger. Hätten sie ihn als „Herrn der Herrlichkeit“ erkannt, hält Paulus ihnen zugute, dann hätten sie ihn nicht gekreuzigt.

Jesus ist die Stelle, an der etwas völlig Neues, etwas nie Dagewesenes, nie Gehörtes, nie Gesehenes in die Welt kommt. Gott selbst, der ganz Andere, kommt als Mensch in die Welt. Der neue Mensch in der Leiblichkeit des alten Menschen. Auf Gott kann man nicht kommen. Gott kommt auf uns und uns entgegen.

Hier zeigt sich das Neue, von dem Paulus sagt, dass Gott es „denen bereitet hat, die ihn lieben“. Und damit sind wir an dem Punkt, von dem zu reden den Christen häufig ein wenig peinlich ist: Es kommt darauf an, dass wir miteinander über das ungehörte und ungesehene Neue staunen, das er uns bereitet hat, – und dass wir Gott lieben.

Wenn wir mit dem Leben Christi leben, mit seinem Wort reden und seinem Wirken wirken, dann kommen wir mit ihm an kein Ende und aus dem Staunen nicht raus.

Und wenn wir ihn lieben, dann geht uns auch seine Liebe zu uns auf – und zu unseren Nächsten. Stofflich gesehen sind unsere Nächsten nicht etwas Neues. Aber geistlich gesehen sind sie jemand Neuer.

Sie sind Neues von Gott.

Fra’ Georg Lengerke

Unbegreiflich schön 1 Kor 2,1-5

Als ich mit dem Predigen anfing, hat mich die Frage nach der Wirkung mehr beschäftigt als heute. Nicht, dass mir die Wirkung heute egal wäre. Aber damals hat sie mich manchmal regelrecht umgetrieben. Das hatte zum Teil mit meinem Anfängersein zu tun – zum Teil mit meiner Eitelkeit.

Wenn jemand mir sagte: „Das war eine schöne Predigt“, habe ich mich gefreut. Später wurde ich dann etwas skeptisch. Und manchmal habe ich nachgefragt, was der Hörerin denn besonders gefallen habe. Oft hieß es dann in etwa: „Ach, so insgesamt… und wie Sie reden.“

Seitdem frage ich mich oft: War nur meine Predigt schön? Oder war (schlimmer noch) nur mein Predigen schön? – Oder wurde erkennbar, wie unbegreiflich schön der ist, von dem ich predige?

Paulus schreibt den Korinthern, er sei „nicht gekommen, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen“, sondern um „das Geheimnis Gottes zu verkünden“. Und das, so Paulus weiter, bedeute nicht „Überredung durch gewandte und kluge Worte“, sondern sei „mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden“.

Wer gerne mit Sprache umgeht, ist versucht „glänzende Reden und gelehrte Weisheit vorzutragen“. Ich weiß das. Und ich vermute, dass Paulus hier konkrete Leute vor Augen hat, die in Korinth gelehrt haben und deren rhetorisches und intellektuelles Brillieren er angreift, weil es letztlich nur von ihnen selbst handelte.

Paulus wendet sich nicht gegen Klugheit oder Weisheit oder eine schöne Sprache. Er will nur nicht, dass das Gefühl mehr Aufmerksamkeit bekommt als das Gefühlte, dass das Sagen schöner sein will als das Gesagte oder dass der Bericht sich wichtiger macht als das Berichtete.

Was aber ist das Gefühlte, das Gesagte, das Berichtete, wenn es um den Glauben geht? Es ist das Geheimnis Gottes. Sein Geist, seine Kraft und seine Weisheit. Sein Wort und sein Wirken.

Wir sollen nicht uns selbst verkündigen, nicht unsere eigene Gutheit oder unsere Taten, unsere Gefühle oder Ansichten, sondern ihn. Aber ihn sollen wir verkünden, als den, der sich in unserem Leben offenbart und in unser Leben hineingesprochen hat, der unser Leben verändert und geprägt hat.

Paulus kommt zu den Korinthern mit Furcht und Zittern. Nicht, weil er Angst vor seinen Zuhörern, vor der Predigt oder um deren Wirkung hatte, sondern weil die Erfahrung Gottes für ihn verstörend und überwältigend war. Und weil nun sein versehrtes Leben von diesem Gott erzählen soll.

Das Leben eines jeden Christen soll eine Predigt, ein Zeugnis für das unbegreifliche Geheimnis Gottes sein, das im Leben Jesu offenbar geworden und noch immer unter uns wirksam ist, sich uns offenbart und zu uns spricht.

Ich weiß, dass ich auch leben soll, was ich predige. Aber meine Predigt ist (wie die Predigt Jesu) meinem Leben immer voraus. So wie der Anspruch immer der Wirklichkeit voraus ist. Und das ist ganz in Ordnung so. Nur so kommt Bewegung in unser Leben und der Karren aus dem Dreck.

Auch mein versehrtes Leben und mein lückenhaftes Lieben läuft hinter dem Wort Gottes her – und soll jetzt schon eine Predigt und ein Zeugnis sein.

Und sollte mir mal wieder jemand sagen: „Die Predigt war schön“, dann hoffe ich, dass derjenige auch sagen kann: „Der, von dem Sie predigen, ist schön. – Unbegreiflich schön!“

Fra’ Georg Lengerke

Ich nehme die Wahl an 1 Kor 1,26-31

In den vergangenen Tagen haben wir vor den Toren Roms eine neue Regierung des Malteserordens gewählt. Es sollten möglichst die am besten Geeigneten sein. Mit den unterschiedlichsten Meinungen, wer das sei, welche Gaben es braucht und wer welche hat. Und wer gewählt wurde, sagte laut und vernehmlich: „Ich nehme die Wahl an!“

Wie wäre das ausgegangen, wenn wir gewählt hätten, wie Gott gewählt hat? „Das Törichte […], das Schwache […], das Niedrige und das Verachtete in der Welt hat Gott erwählt“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth.

Nun geht es, wenn Gott erwählt, nicht um Wahlämter. Es geht um Berufung. Wer seine Berufung annimmt, der merkt, dass er auch erwählt ist. Erwähltsein bedeutet, dass ich herausgenommen werde aus dem Allgemeinen ins Besondere, aus der Nicht-Unterscheidbarkeit in das Unverwechselbare, aus dem Gemeinen ins Ungemeine.

Und Gott erwählt uns nicht, um uns aus den Anderen herauszuheben, sondern um uns zu den Anderen zu senden. Gott erwählt Menschen nicht vor anderen, sondern für andere…

Aber warum schreibt Paulus, dass Gott ausgerechnet das Törichte, das Schwache und das Niedrige erwählt? Stimmt, was der Philosoph Friedrich Nietzsche den Christen unterstellt hat: „die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerierten“, gegen die Nietzsche protestiert und wegen derer er die „Moral des Christentums als Kapitalverbrechen am Leben empfindet“?

Ich denke, es ist wichtig, dass sich Christen der Versuchung bewusst sind, Schwachheit und Krankheit zu idealisieren. Aber es geht bei der Erwählung Gottes nicht darum, dass Torheit schlechthin besser wäre als Weisheit, Schwäche besser als Stärke oder Niedrigkeit besser als Vornehmheit.

Es geht darum, dass etwas nicht stimmt mit dem, was „die Welt“ (oder der weltliche „Mainstream“) als Weisheit, Stärke und Erhabenheit verehrt und als Torheit, Schwäche und Niedrigkeit verachtet.

Die „Weisheit der Welt“ ist für Paulus Torheit, weil sie zwar viel gelernt aber wenig erkannt hat, weil sie das Sichtbare, Messbare und Begreifliche für die ganze Wirklichkeit hält, über die hinaus es nichts Unbegreifliches geben darf.

Die „Stärke der Welt“ ist bestenfalls halbstark, Sie überschätzt sich, meint niemanden zu brauchen und ihre traurige Großartigkeit besteht darin, dass sie sich nicht helfen lässt.

Und die „Erhabenheit der Welt“ ist schließlich jene, die überheblich ist, sich selbst erhebt – über andere und auf deren Kosten – und die über sich nichts und niemanden dulden kann.

Gott erwählt das, was die Welt für töricht hält, in Wirklichkeit aber weise ist; das, was für die Welt schwach, für Gott aber stark ist; das, was in den Augen der Welt niedrig ist, in Wirklichkeit aber echte Größe hat.

Ich stand in der vergangenen Woche nicht zur Wahl. Aber ich habe gewählt. Manche von mir Gewählten haben eine Aufgabe übernommen. Andere nicht. Aber alle haben nach der Wahl gesagt. „Ich nehme die Wahl an.“

Doch wenn ich jetzt nach Hause fahre, dann stehe auch ich wieder zur Wahl. Weil Gott mich erwählt. Immer wieder. Und zwar gerade da, wo ich für ihn in der Torheit klug, in der Schwachheit stark und in der Niedrigkeit groß bin.

Ich sage das natürlich nicht laut und feierlich. Aber leise und dankbar sage ich es doch. Immer wieder: „Ich nehme die Wahl an.“

Fra’ Georg Lengerke

Seid alle (m)einer Meinung! 1 Kor 1,10-13.17

„Wir sollten gemeinsam nach vorne schauen“, sagt mein Gegenüber. Wir sind auf einer Versammlung meiner Gemeinschaft vor den Toren Roms. Es geht um wichtige Fragen unserer Zukunft und unserer Sendung in der Welt.

„Duldet keine Spaltung unter euch“, schreibt der Apostel Paulus den Christen in Korinth. Stattdessen sollen sie einig sein, indem sie mit „einer Stimme“ reden und „eines Sinnes“ und „einer Meinung“ sind.

Ich bekomme ungern gesagt, ich solle mit jemandem einer Meinung sein. „Meinung“ ist hier gleichbedeutend mit „Urteil“. Wenn ich anderes erkannt zu haben meine und zu anderen Schlüssen komme, kann ich gar nicht einfach „einer Meinung“ mit einem anderen sein. Und ist das eigentlich erstrebenswert und nicht vielmehr langweilig, mit jemandem in allem einer Meinung zu sein?

Einheit ist auch im Neuen Testament kein absoluter Wert. Jesus sagt den Jüngern, sie sollen „alle eins sein“ (Joh 17,21), damit die Menschen an ihn glauben können. Zugleich aber hören wir, dass es Spaltungen um seines Namens willen geben wird – und zwar bis in unsere nächsten Beziehungen hinein (Mt 10,34-36; 1 Kor 11,19). Es gibt also beides: Differenzen um Gottes willen und Differenzen gegen den Willen Gottes, die das Zeugnis für ihn unglaubwürdig machen.

Während unserer Gespräche hier merke ich: Je nachdem, was das Ziel einer Gemeinschaft ist, gibt es wichtigere und weniger wichtige Themen zur Erreichung dieses Zieles. Je wichtiger das Thema, umso wichtiger ist eine Übereinstimmung im Urteil.

In unseren Begegnungen ist es auch oft wichtig, dass verschiedene Urteile zusammenkommen, sich ergänzen und zu einer gründlichen und umfassenden Urteilsbildung beitragen. Schon wenn wir allein sind, haben wir ja bereits mit unseren Augen zwei etwas unterschiedliche Perspektiven, die uns dreidimensional sehen lassen. Oder wir holen eine „zweite Meinung“ ein, wenn es um eine wichtige Diagnose oder Behandlung geht.

Und schließlich kann „Meinung“ beides bedeuten: Ansicht oder Absicht – wie ich eine Sache sehe und worum es mir bei einer Sache geht. Letzteres zum Beispiel, wenn in der katholischen Kirche eingeladen wird, „in der Meinung des Heiligen Vaters“ zu beten, sich also ein Gebetsanliegen, eine Absicht des Papstes für die ganze Kirche zu eigen zu machen.

Wenn wir Einheit wollen, können wir verschiedener Ansicht sein. Aber wir sollten dieselbe Absicht haben.

Wenn uns die gemeinsame Absicht fehlt, dann ist die Einheit der Kirche, einer Gemeinschaft oder auch einer Ehe nicht zu retten. Dann werden die Ansichten und Absichten von Wortführern zum Identifkationskriterium. Deshalb beginnt in Korinth der Personenkult. Aber es geht gar nicht um die Ansichten und Absichten von Kephas oder Paulus oder Apollos, sagt Paulus den Korinthern, sondern es geht um Christus. Und der ist nicht zerteilt.

Daher gilt für Christen immer, dass es uns um unsere Ansichten auf Christus und um die Absicht Christi geht. Anders gesagt: um „Christi Sinn“ (1 Kor 2,16). Und der besteht darin, dass seine Liebe und sein Erbarmen, sein Wort und seine Tat zu uns und zusammen mit uns zu allen Menschen kommen – besonders zu den Armen und Kranken.

Ich frage in diesen Tagen sehr viel nach den Ansichten der anderen und danach, was unsere gemeinsame Absicht ist. „Wir sollten nach vorne schauen“, sagt mein Gesprächspartner. „Einverstanden“, antworte ich, „lass uns darüber reden, worum es uns miteinander und mit Christus geht.“

Fra’ Georg Lengerke

Heilige Sünder 1 Kor 1,1-3

Bis zum 8. Sonntag im Jahreskreis wird dieses Jahr sonntags der erste Brief des Apostels Paulus an die Korinther gelesen.

Manchmal sind unsere Briefanfänge höflicher als unsere Meinung über die Adressaten. Wir schreiben „Liebe Anneliese“, obwohl wir Anneliese weder lieben noch lieb finden, und „Sehr geehrter Herr Kollege“, obwohl wir ihm in den folgenden Zeilen keineswegs die Ehre geben. Oft sind solche Anreden nur Höflichkeit oder Konvention.

Anders ist es, wenn Paulus den Brief nach Korinth an „die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen“ adressiert – um sie anschließend zu rügen, dass es bei ihnen Streit und Spaltung, Unzucht und Selbstruhm gibt.

Paulus ist nicht bloß höflich. Er meint wirklich die „Heiligen“ in Korinth. Denn zum Leben der Kirche und der einzelnen Christen gehört es von Anfang an, dass sie die Spannung von Heiligkeit und Sünde in sich tragen und aushalten müssen.

Heiligkeit hat zwar mit Vollkommenheit und Güte zu tun. Aber das ist zunächst mal die Vollkommenheit und Güte Gottes. Heilig ist, was zu Gott gehört und von Gott spricht.

In den Religionen wird daher der Bereich des Heiligen vom Bereich des Profanen unterschieden. Der Bereich dessen, was von Gott handelt, vom Bereich des rein menschlich Funktionalen oder der Sphäre Gottes Entzogenen – mit allen Unschärfen und Überschneidungen, die das in Gottes Schöpfung und insbesondere im Leben der Menschen haben kann.

Denn das Verhältnis von heilig und profan ist keineswegs statisch. Es geht im Leben Christi und der Christen ja gerade darum, dass Leben und Welt (also auch das Profane) „geheiligt“, also (wieder) Gott gemäß werden und von ihm erzählen sollen.

Paulus unterscheidet offenbar eine objektive und eine subjektive Heiligkeit. Die Christen in Korinth wurden durch die Annahme des Glaubens an Christus und die Taufe objektiv „geheiligt“ – und zwar nicht nur um ihrer selbst willen, sondern für die Anderen.

Aber das allein macht sie noch nicht vollkommen und gut. Sie sind zwar mit Gott verbunden, und jene anfängliche Trennung, die die christliche Theologie etwas missverständlich „Erbsünde“ nennt (statt z.B. „Ursünde“), ist überwunden. Aber dennoch bleiben sie subjektiv der Möglichkeit der Sünde ausgesetzt, fallen sie hinter ihre Heiligkeit und ihre Würde zurück, um wieder und wieder aufzustehen, versöhnt zu werden und weiter zu gehen.

„Christ, erkenne deine Würde!“ schrieb Papst Leo d. Gr. im 5. Jahrhundert den Christen, die auf diese Würde nichts gaben. Vielleicht ist das eine der Grundschwierigkeiten des Christseins heute: Wir ertragen nicht, gesagt zu bekommen, dass wir geheiligt und zur Heiligkeit berufen sind und gleichzeitig Gutes unterlassen und Böses getan haben.

Wir verdammen gnadenlos die Bösen (oder jene, die wir dafür halten) und wollen für uns selbst ansonsten hören, alles sei schon irgendwie in Ordnung oder normal oder unvermeidlich.

Ich will mir das Paradox eingestehen, geheiligt zu sein und zugleich Gottes Heiligkeit (noch) nicht zu entsprechen. Je ehrlicher ich damit bin, umso näher bin ich dem, der mich heiligt, und umso verlockender wird für mich die Freiheit der Heiligen, die darin besteht, dass die Sünde keine Macht mehr über sie hat.

Und beim nächsten Brief an die „liebe Anneliese“ erinnere ich mich, dass sie für Gott tatsächlich „lieb“ ist, und beim Schreiben an den Herrn Kollegen, dass Gott als Mensch sein Leben gegeben hat, um aus ihm einen „sehr Geehrten“ zu machen.

Fra’ Georg Lengerke