Manches auf vielmal statt alles auf einmal Joh 15,26-27; 16,12-15 (Pfingsten)

Pfingsten ist das Fest der großen Bewegung, äußerlich und innerlich. Der Heilige Geist kommt unter einem sturmartigen Brausen, erfüllt das Haus, in dem die Apostel und Maria beisammen sind, und erscheint in Gestalt je einer Feuerzunge über jedem der Versammelten. Das Erfülltsein mit Heiligem Geist zeigt sich in ihrer Verstehbarkeit: Die Pilger aus allen Völkern hören sie in ihrer Sprache reden und sind „fassungslos vor Staunen“.

Die Schrift sagt, der Heilige Geist verleiht dem Menschen Gaben und schenkt seinen Entscheidungen und Taten Früchte. Er ist die Kraft der Wandlung und der Erneuerung, der Bekehrung und Versöhnung, der Heilung und der Heiligung, er wirkt die Verbundenheit mit Gott und befähigt zur Liebe, die von Gott kommt.

Alles das wird von Menschen bezeugt, die seit den Tagen in Jerusalem bis heute auf das Wirken des Heiligen Geistes vertrauen.

Das kann tröstlich sein, wo der Geist bereits erfahren wird. Das kann verheißungsvoll sein, wo sein Wirken ersehnt wird. – Und das kann die Erwartungen dessen beflügeln, was der Heilige Geist in einem Leben wirken möge.

Für Menschen mit einer Neigung zu Hysterie oder Dramatik kann das gefährlich sein. Manche leben über Jahre in der Erwartung, wann der Heilige Geist nun endlich den großen Befreiungsschlag, die große Wende zum Guten herbeiführt und alles auf einmal verwandelt.

Solche Erwartungen können etwas Tragisches bekommen, wenn das ganze Leben sich dauernd mit aller Macht nach dem Nichterfüllten ausstreckt. Sie können auch von jenem Wirken des Heiligen Geistes ablenken, dass sich nicht in Sturm, Beben oder Feuer vollzieht, sondern in der Ahnung einer Bewegung beginnt.

Ich bin was „gewaltige“ Erwartungen angeht, eher zurückhaltend. Nicht, weil ich dem Heiligen Geist nicht die Erneuerung der Welt zutraute. Im Gegenteil, die halte ich für ihre einzige Chance. Aber solche „Alles-auf-einmal-Erwartungen“ gibt es in der Bibel nicht. Und das mit gutem Grund. Das Wirken des Heiligen Geistes ist nämlich – wie alles Gute – gefährlich, wenn es nicht auf eine Weise und in einem Maß geschieht, die für den Menschen annehmbar, erträglich, ja überlebbar ist.

In der zweiten Evangelienlesung, die am Pfingstfest in der katholischen Kirche gelesen wird, spricht Jesus von der Sendung des Heiligen Geistes. Dieser „Geist der Wahrheit“ gibt Zeugnis für Jesus und macht zu Zeugen Jesu, die er erreicht. Und dann heißt es: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten.“

Hätte Jesus den Jüngern in seiner irdischen Lebenszeit das Viele gesagt, das er noch zu sagen hatte, sie hätten es nicht tragen können. Es wäre unerträglich gewesen. Es hätte sie überfordert, verschreckt, erdrückt, gedemütigt – und vielleicht noch Schlimmeres.

Der Heilige Geist sagt uns das Wort Jesu, und zwar so, dass wir es aufnehmen und verstehen, uns von ihm erreichen und führen lassen können. Er ist der Kontinuierer, der Vergegenwärtiger, der Dosierer des Wortes Jesu. Er ist der Raum, in dem das Gespräch mit Gott weitergeht im Hören und Beten und Lieben der Christen und der Kirche.

Neulich traf ich einen Bekannten, der wissenschaftlich hochbegabt und von fragiler Gesundheit ist. Er ist häufig hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Lebensmüdigkeit, zwischen dem scheinbar unerschütterlichen Selbstbewusstsein des Key-Note-Speakers und der Verzweiflung dessen, den die geringste Kritik sich selbst verachten lässt.

„Pfingsten ist für mich ein schwieriges Fest“, sagt er. „Ich will die Euphorie nicht, aus der ich immer in den Abgrund stürze.“ Aber Euphorie ist keine der Gaben Gottes. Gottes Geist ist mächtiger als alles. Er erschafft das Universum. Aber er macht nicht „alles auf einmal“ neu, sondern „manches auf vielmal“ – Tag für Tag – bis das Angesicht der Erde erneuert und sein Werk an uns (und mit uns) vollendet ist.

Fra’ Georg Lengerke

Elf sind einer zu wenig Apg 1,15-17.20ac-26

Ich bin kein Fachmann in Sachen Fußball. Das bringt mir unter den jüngeren meiner Freunde mitunter liebevollen Spott und umständliche Erklärungen von Allgemeinplätzen ein. Beides mag ich.

Aber ich freue mich an einem schönen Spiel und bange mit. Auch schon davor. Wer spielt? Wer sitzt auf der Ersatzbank? Wie auch immer, am Ende müssen da elf stehen und spielen.

In der Kirche sind elf einer zu wenig. Es müssen zwölf sein. Aus seinen Jüngern wählt Jesus zwölf aus, die er Apostel nennt. Denen gibt er eine besondere Sendung, Vollmacht und Verantwortung für die Kirche. Warum zwölf? Weil Jesus anknüpft an die zwölf Stämme Israels, wenn er das Volk Gottes aus Juden und Heiden neu sammelt und sendet.

Das waren denkbar verschiedene Männer mit ihren Stärken und Schwächen. Auch diese Urzelle der Kirche war nicht vor Verwerfungen, Schuld und Verrat sicher. Am spektakulärsten zeigte sich das im Fall des Judas Iskariot. Der hatte Jesus nicht nur verraten und das später bitter bereut (wie andere auch), sondern konnte sich das auch nicht verzeihen, so dass er sich selbst richtete.

Aber elf sind einer zu wenig. Das wussten auch die verbleibenden Apostel. Sie losen aus zwei Kandidaten, die schon gemeinsam mit ihnen und Jesus gegangen waren, einen aus, um mit ihnen „Zeuge der Auferstehung“ zu sein. Matthias trifft das Los.

Das Festhalten an der Zahl der Zwölf und an der Besonderheit des Dienstes der Apostel erinnert die Kirche an ihr Leben aus dem Ursprung und gilt als entscheidender Schritt zur Herausbildung des Bischofsamtes im ersten Jahrhundert. Aber die Merkmale der Aufnahme des Matthias in den Apostelkreis scheinen mir auch allgemein bedenkenswert für die Frage, wie jemand zur Kirche der Apostel gehören will.

Denn viele, die formal (noch) zur Kirche gehören, sind in ihr heimatlos geworden. Entweder, weil ihnen die Inhalte des Glaubens fremd geworden sind, oder weil ihnen die Inhalte des Glaubens nicht mehr angeboten werden. Die Kirche macht keinen Unterschied mehr.

Aber immer wieder gibt es auch solche, die Erfahrungen machen, welche sie neu nach Gott suchen lassen. Und manche von ihnen erkennen dann auch ihr bisheriges Leben als eines, dass sie – wie Matthias (vielleicht auf Abstand zu den anderen) – bereits mit Gott und mit Jesus gelebt haben. Und diese Beziehung will nun konkreter werden, und aus ihr resultiert dann ein „apostolischer“ Auftrag, eine Sendung zu den Menschen.

Die solche Erfahrungen machen, haben Sehnsucht nach Richtung und Sinn; danach, dass es ihnen wieder um etwas geht; und danach, dass dieses „etwas“ so lebensrelevant und kostbar ist, dass es sich dafür zu leben und zu leiden, sich zu mühen und zu kämpfen lohnt.

Dafür kann es wichtig sein, die Scheu vor den Elf, also vor den anderen Christen, zu verlieren. Die kann aus Verachtung oder Bewunderung herrühren. Sie mögen einem vielleicht naiver oder frömmer oder fortgeschrittener vorkommen als man selbst ist oder sein will. Oft sind solche Eindrücke nur Idealisierungen. Aber manchmal gilt auch, was Augustinus von seiner Berufung berichtet: Gott ruft nicht die Guten. Sondern er macht die gut, die er ruft.

Wenn ich das glaube, kann ich mich auch damit versöhnen, nicht von Anfang an oder nicht bei einem engeren Kreis dabei gewesen zu sein. Einmal werden wir sehen, was alles in unserem scheinbar nur dahingelebten Leben von ewigem Wert war. Und was wir gerade dort haben empfangen und geben können, wohin wir gestellt wurden.

Und dann kann sich auch die Empörung über Versagen und Schuld in der Kirche von Judas bis heute verwandeln. Und zwar in ein Lebenszeugnis wie das des Matthias, das ein Gegengewicht, einen Ausgleich und Ersatz zu dem darstellt, was andere gefehlt haben.

Und schließlich sagt die Berufung des Matthias jedem, der sich nach Gott sehnt: Du bist, wie keiner ist. Du hast, was keiner hat. Du vermagst, was keiner vermag. Ohne dich ist die Kirche unvollständig. Elf sind einfach einer zu wenig.

Fra’ Georg Lengerke

Ich habe euch Freunde genannt Joh 15,9-17

Heute feiere ich mit Bernadette ihre erste heilige Kommunion. Da trifft es sich gut, dass Jesus im Evangelium über seine Freunde spricht. Der Tag heute ist ein Schritt auf dem Weg der Freundschaft zwischen Jesus und Bernadette. Was heißt nun Freundschaft mit Jesus Christus? Und wie ist es bei mir um sie bestellt?

„Freund“ mag zunächst ein wenig lapidar klingen, wenn es um die Beziehung zu Gott geht. Das Wort wird ja inflationär gebraucht, z.B. für alle irgendwie im Netz miteinander Verbundenen oder von Ex-Geliebten, die beteuern, sie würden „gute Freunde bleiben“.

Aber ursprünglich bezeichnet Freundschaft (philia) nicht nur eine Art von näherer Bekanntschaft oder gegenseitiger Sympathie. Freundschaft ist vielmehr eine Weise der Liebe. Und Liebe ist mehr als Gefühl. Lieben heißt, zu wollen und das Meine dazu zu tun, dass der Andere zu seiner ganzen Größe und Schönheit kommt. Wo dieses „Groß-sein-Lassen“ des Anderen erwidert wird, da ist Freundschaft. Freundschaft ist gegenseitige Liebe.

Freundschaft ist eine Beziehung von Ebenbürtigen, die jedoch verschieden sind, und die einander Anteil geben und nehmen – an ihrem Leben, ihren Gaben und ihrem Geschick. Was einer hat, hat er auch für den anderen. Was den einen trifft, lässt den anderen nicht unberührt.

Und schließlich sind Freunde Menschen, die etwas gemeinsam haben, denen es miteinander um etwas geht, „die Gemeinschaft in wichtigen Dingen haben“ (Franz von Sales).

„Ich habe euch Freunde genannt“, sagt Jesus den Jüngern. Uns wird keine Reaktion der Angesprochenen berichtet. Aber es ist zu vermuten, dass es die Männer und Frauen erschüttert hat, die Jesus gekannt und ihm geglaubt haben, mit ihm vertraut wurden und ihn geliebt haben.

Denn sie haben ja immer wieder das göttliche Anderssein dieses Menschen erlebt und erlitten. Sie haben auf menschlicher Ebene das größte Gefälle erlebt, dass es geben kann: die unvergleichliche Andersheit vom Urgrund des Seins und dem Seienden, von Schöpfer und Geschöpf, von Gott und der Welt.

Aber wenn Gott sich offenbart, dann sucht er die Erkennbarkeit, die Ähnlichkeit, die Ebenbürtigkeit mit dem Menschen, dem er sich offenbaren will. Von dem Moment, in dem Gott mit Mose redet, „von Angesicht zu Angesicht, wie einer mit seinem Freund spricht“ (Ex 33,11), bis hin zu Jesus, in dem Gott sich als ein Mensch offenbart, „in allem uns gleich, außer der Sünde“ (IV. Hochgebet, vgl. Hebr 4,15).

Vergessen wir mal das Gefälle, will Jesus sagen. Vergessen wir mal für einen Augenblick, dass ich der Herr bin und ihr Diener seid. „Ich nenne euch nicht mehr Knechte“, sagt er, „denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ (Joh 15,15)

Nichts von dem, was ich vom Vater erfahren und empfangen habe, behalte ich für mich. Alles höre und habe ich für euch. Alles sage und gebe ich euch.

Und dann blitzt doch nochmal kurz das Gefälle auf: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich Euch auftrage.“ Er bleibt ja doch auch der Herr, der einen Auftrag und eine Sendung für seine Freunde hat.

Aber auch das gehört zu jeder Freundschaft, dass der eine nach dem fragt, was der andere erkannt hat – nach dem, was er soll und was er will. Angenommen, der eine Freund hat nun den Willen Gottes, das schlechthin Gute ganz erkannt, dann gehört zur Freundschaft auch, dass sein Freund mit ihm will, was er will, mit ihm liebt, was er liebt, und für ihn tut, was er getan haben will.

Und so, sagt Jesus, bekommt er auch Anteil am Leben des göttlichen Freundes und an der unaussprechlichen Freude, die dieser nicht für sich behalten will.

„Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“, sagt Jesus. Und nun ist die Wahl bei uns. Bernadette war neulich bei mir. Sie will eine Freundin Jesu sein. Und ihre Freude nimmt mich mit zu dem, der will, dass die Seinen „Freunde Jesu“ für die Menschen sind.

Fra’ Georg Lengerke

Wer wir sein werden 1 Joh 3,1-2

Wer bin ich? Das ist vielleicht die existentiellste Frage, die ein Mensch stellen kann. Ich kenne Menschen, die sich besser, und solche, die sich weniger gut kennen.

Die sich besser kennen, wissen sowohl um ihre Schwächen als auch um ihre Stärken. Und sie wissen um die Grenzen ihres Wissens von sich selbst. Sie wissen, dass sie mehr sind, als was sie von sich wissen. Wenn es gut geht, lernen sie sich ein Leben lang kennen.

Die sich nicht so gut kennen, haben Vorstellungen von sich, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Und an denen sie nicht selten ständig scheitern – zusammen mit ihren Nächsten, die gerne wüssten, mit wem sie es zu tun haben.

Die Frage ist heute von besonderer Brisanz, weil es keinen Konsens darüber mehr gibt, was eigentlich die Kriterien meines Selbst-Seins sind. Was ist mir biologisch und biographisch vorgegeben? Was obliegt meiner Wahl und meiner Freiheit, zu entscheiden, einzuüben oder zu entwickeln? Was ist mir andererseits durch fremde Meinung, gesellschaftliche Konvention oder Zuschreibung auferlegt? Und was davon sollte ich annehmen und was zurückweisen und ablegen?

Kann ich sein, was ich will? Oder soll ich wollen, was ich bin?

Die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich jeder Mensch früher oder später. Mit jedem geht sie irgendwie mit. Aber ausdrücklich wird sie nur selten gestellt. An wen sollte man sie auch stellen? Weiß ich nicht selbst am besten, wer ich bin?

Nicht unbedingt: Andere kannten mich schon, bevor ich mich kannte. Und vielleicht werden andere mich noch kennen, wenn ich mich selbst nicht mehr kenne.

Aber bin ich andererseits nicht oft genug auch verkannt worden? Oder haben mich Menschen nicht manipuliert, bevormundet und ausgenutzt, indem sie allzu genau zu wissen meinten, wer und wie ich bin?

Die Offenbarung der Juden und Christen beschreibt den Menschen als Wesen, das sich selbst angesichts eines Anderen kennen und anzunehmen, lieben und hervorzubringen lernt. Nicht, indem er sich narzisstisch im Anderen spiegelt und vor ihm ein Gesicht macht, sondern indem er sich dem Anderen zu erkennen gibt und in der Sicht des Anderen ein Gesicht bekommt.

Und das wird nicht nur von der Beziehung von Mensch und Mensch, sondern auch von der Beziehung von Mensch und Gott gesagt. Denn die versichtbart sich in der liebenden Beziehung eines Menschen zu seinem Nächsten.

Wir sind, was wir sind, von Gott her, sagt die Schrift. Und wir werden, was wir sind, zu ihm hin. Und das bedeutet ursprünglich gerade nicht Gängelung, Bevormundung und Knechtschaft, sondern Befähigung, Ermächtigung und Freiheit.

„Wir heißen Kinder Gottes“, sagt der Erste Johannesbrief, „und wir sind es.“ Ursprünglich war das offensichtlich. Bis zu dem Moment, in dem der Mensch meinte, sich vor Gott in Sicherheit bringen zu sollen, und sich damit auch dem Blick entzog, der ihn vollkommen kennt und liebt.

Jetzt ist es verborgen, sagt Johannes. Wer Gott nicht denken kann, kann auch den Menschen nicht von Gott her denken. „Deshalb erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.“

Aber einmal wird es offenbar werden. Wer liebt, erkennt den geliebten Anderen. Und wer sich lieben lässt, weiß, wie es ist, erkannt zu werden. Einer liebt und erkennt uns vollkommen. Deshalb sagt Jesus: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“

Dieses Gekanntwerden hat schon manchen durch tiefe Dunkelheiten geführt. Einer davon ist Dietrich Bonhoeffer. Im Gefängnis beginnt er ein bekanntes Gebet mit unserer Ausgangsfrage: „Wer bin ich?“

Bin ich so, fragt er sich, wie die Leute meinen, dass ich bin? Stark und sicher, mutig und entschieden, frei und vornehm? Oder bin ich so, wie ich mich selbst wahrnehme? Schwach und ängstlich, unverlässlich und unberechenbar, getrieben und richtungslos? „Bin ich dieser oder jener?“, fragt Bonhoeffer zum Schluss und endet vor dem, der ihn allein ganz kennt. „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Amen.“

Fra’ Georg Lengerke