Bei feierlichen Essenseinladungen gibt es eine Tischordnung. Die hat für die Einladenden den Vorteil, Begegnungen zwischen Gästen fördern oder vermeiden zu können. Eine Tischordnung kann über das Gelingen von Abenden oder den Verlauf ganzer Biographien entscheiden.
Nicht jede Tischordnung ist im Voraus geplant. Als junger Mann war ich auf einem Fest, in dem die Damen einen Schuh in die leere Saalhälfte warfen und die daraufhin hereingebetenen Männer mit dem Schuh ihre Tischdame zogen. Oder die Gastgeberin legt im kleinen Rahmen die Tischordnung spontan vor Beginn des Essens fest und bittet die Gäste jeweils an ihren Platz.
Wer bei der letzten Variante schon allzu gern an einem Platz steht, der nicht der seine ist, tut gut daran, ihn unaufgefordert zu räumen. Sonst ginge es ihm wie dem Drängler im Gleichnis vom rechten Platz: „Mach diesem hier Platz!“
Seit Freitagabend bin ich mit rund 40 jungen Menschen wieder in Chabrouh im Libanon. Viele sind zum ersten Mal dabei. Am Montag kommt die erste Gruppe behinderter Gäste aus ihrem Heim, um mit uns hier eine Woche Ferien zu machen. Auf die bereiten wir uns und das Haus vor.
Vieles muss aufgebaut, geschmückt, aus Depots geholt und hergerichtet werden. Aber das Entscheidende ist: dem, der kommt, Platz zu machen. Hier im Haus, unter uns, aber auch in mir, in meinem Herz und Denken. Mein überversorgtes fettes Ich bekommt einen kleinen Knuff und hört: „Mach diesem hier Platz!“
Und zwar den ersten Platz. Den Platz ganz oben. Dem Platz, an dem ihm kommende Woche unsere ganze Aufmerksamkeit gilt. Die morgen kommen, gehören zu denen, die hier im Land auf dem letzten Platz sind, denen man über den Mangel an familiärer Fürsorge und professioneller Hilfe hinaus mittlerweile auch den Mangel an Medikamenten und ausgewogener Nahrung ansieht.
Ganz oben ist der Platz beim Gastgeber. Im Gleichnis ist das Gott. Er ist der, der gerade diesen Gast bei sich haben will. Der ihn ansieht und erkennt und sich an ihm freut wie sonst keiner. Der, von dem das Gleichnis sagt, dass er ihn und mich eingeladen hat.
Gut, das mit den Damenschuhen damals war lustig (und ich meine mich auch an einen schönen Abend zu erinnern). Aber eine Tischordnung direkt vor dem Essen durch Zuweisung ist mir dann doch noch lieber. Mein gerade noch „fettes Ich“ macht sich dann schlank, ich stelle mich etwas abseits und warte ab, wo ich wohl zu sitzen kommen werde.
Das möchte ich als Lebenshaltung lernen: meinen Anteil bis hierhin kraftvoll, gut und gerne zu tun und mir dann hellwach und zu allem bereit sagen und zeigen zu lassen, wo mein Platz ist.
Hier im Libanon sind wir Helfer beides: im Dienst des Gastgebers und auch selbst Gast. Zusammen mit dem, der den ersten Platz bekommt. Mit ihm bin ich ja eingeladen. Für ihn bin ich da. Zu ihm gehöre ich. Seine Ehre freut mich. Und weil das so ist, sieht mich der Gastgeber an und lächelt mir zu. Er möchte, dass ich bei meinem und seinem Gast bin – und bei ihm. Und ich höre ihn sagen:
„Mein Freund, rück auf!“
Fra‘ Georg Lengerke