Vor kurzem haben wir einen Onkel von mir begraben, der ein sehr bewegtes Leben hatte. Als eineinhalbjähriges Baby überlebte er als einziger seiner mitflüchtenden Verwandten die Bombardierung Dresdens und wuchs als Pflegekind einer fremden Familie in Bitterfeld auf. Als 22-Jähriger wurde er von seiner Geburtsfamilie wiedergefunden und übersiedelte in die Bundesrepublik.
Bei der Beerdigung haben wir das heutige Evangelium gelesen: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren“, sagt Jesus vor seinem Abschied zu den Jüngern und spricht von den „vielen Wohnungen“ im Hause des Vaters. Dorthin geht er uns voraus, sagt er, um einen Platz für uns vorzubereiten und wiederzukommen, um uns zu sich zu holen, „damit auch ihr dort seid, wo ich bin“.
Der Onkel wusste, was es bedeutet, ein Herz zu haben, das verwirrt war, weil es hier kein bleibendes Zuhause hatte und sich dennoch einrichten wollte oder sollte. Er hatte zwar ein Zuhause, in dem er aufwuchs, aber aus dem er nicht kam, und ein Zuhause, aus dem er zwar kam, aber das er nicht kannte und das später nie mehr ganz seines werden sollte.
„Wir haben hier kein bleibende Stadt“, heißt es im Hebräerbrief, „aber die künftige suchen wir.“ (Hebr 13,14). Bei der Beerdigung und angesichts des Lebens des Onkels habe ich daran gedacht, dass das von allen Menschen gilt: Wir sind auf gewisse Weise alle Pflegekinder und Kinder auf Besuch und werden erinnert (und oft genug auch verwirrt), weil wir wissen, dass wir nicht bleiben können.
Vergangene Woche war ich für die Wahl eines neuen Ordensoberen meiner Gemeinschaft in Rom. Das war ein wichtiger Schritt in unserer Geschichte. Doch je feierlicher wir ihn begingen, umso mehr dachte ich an die Vielen, die auch in der Kirche und ihren Gemeinschaften spüren, dass deren irdische Gestalt kein bleibendes Zuhause ist. Dort nicht, wo sie fehlerhaft, pompös oder banal daherkommt. Und selbst dort nicht, wo sie ihren Auftrag erfüllt und ihrer Berufung folgt.
Vom Haus, das die Kirche ist, spricht der Hebräerbrief heute. Es ist nicht aus Steinen und nicht von Menschenhand gebaut. Im Gegenteil: Sein Grund- und Schlussstein ist einer, den die menschlichen Bauherren verworfen haben: Jesus Christus. Zu diesem „geistigen Haus“, sagt der Hebräerbrief, sollen wir uns erbauen lassen als „lebendige Steine“ und als „priesterliche“ Menschen, die dienend, betend und liebend die Welt zu Gott nach Hause bringen.
Wir sind auf einem Weg, den wir schon kennen, sagt Jesus. Und als Thomas irritiert nachfragt, was das denn bitte für ein Weg sein solle, den er eben nicht kenne, antwortet Jesus: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Jesus Christus ist der Weg, auf dem schon hier die Wahrheit erkannt und das Leben gewonnen wird, das den Tod besiegt hat.
Jesus Christus ist der Heim-Weg ins wahre Leben für die, die ernst damit machen, dass sie hier keine Bleibe haben. Zu diesem Heimweg gehören die Prachtstraßen und die Durststrecken, die Höhenwege und die Umwege, die Fluchten, Verfolgungen und Verwerfungen. Und: Die Wege mit Christus führen alle nach Hause.
Übrigens gab es ein wunderbares Hoffnungszeichen für das verwirrte Herz des unbekannte kleinen Jungen, der da schreiend zwischen den unzähligen Leichen im Dresdener Hauptbahnhof gefunden wurde.
Irgendein Verwaltungsbeamter der Sowjetischen Besatzungszone gab dem von seiner Pflegemutter „Peter“ genannten Jungen den Nachnamen „Friednot“. Friede tut not, kann das bedeuten, oder dass wir lebensbedrohliche Friednot haben, wie Menschen Wassernot oder Atemnot haben.
Als der junge Mann zu seinen Eltern kam, die den Krieg überlebt hatten, erfuhr er, dass er auf den Namen „Siegfried“ getauft worden war. Der Friede wird siegen! Das sollte in aller Friednot seines irdisches Leben ein Versprechen bleiben. Doch im Haus des Vaters, in dem uns ein Platz bereitet ist, wird sich dieses Versprechen für den Onkel erfüllen.
Fra' Georg Lengerke