Der Felserne Mt 16,13-20

„Wer man ist, das weiß man selbst am besten“, sagte dieser Tage eine Politikerin in den Abendnachrichten über den Kabinettsbeschluss zum neuen Selbstbestimmungsgesetz.

Ich habe da meine Zweifel. Manche Menschen kennen sich besser, manche schlechter. Und viele wollen sich am liebsten gar nicht kennen lernen, sondern jemand sein, der sie nicht sind. Und wenn sie das dann erkennen und der Enttäuschungsschmerz nachlässt, werden sie freier und froher als je zuvor.

Auch ich habe lange gebraucht, um mich halbwegs zu kennen. Dieser Lernweg verlief über ziemlich schmerzhafte Umwege. Ohne Menschen, die mich lieben und erkannt haben, was in mir steckt, was ich vermag, wie und wer ich bin, wüsste ich sehr wenig von mir. Ohne die ernüchternde, erhellende und bewährende Erfahrung meiner selbst im Umgang mit ihnen würde ich wahrscheinlich noch immer manchen Traum verteidigen von jemandem, der ich nicht bin und den es nicht gibt.

In den Berufungsgeschichten der Evangelien geht es oft um das Erkennen Jesu und das Erkanntwerden von ihm. Auch in dem Gespräch zwischen Jesus und Petrus während der Reise an die Jordanquellen bei Caesarea Philippi. Jesu fragt, was die Leute und was die Jünger vom ihm sagen.

„Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“, bekennt Petrus. Und daraufhin hört er, wer er selbst ist: „Du bist Petrus“, sagt Jesus zu dem, den er gerade noch mit seinem Namen „Simon Barjona“, „Simon, Sohn des Johannes“ angesprochen hatte.

Über die Bedeutung des Namens Petrus ist viel nachgedacht worden. Das Wort kommt vom griechischen petra, der Fels. Der griechische Name Petros heißt also nicht der Fels, sondern eher der Felserne. Das kann sich entweder auf seine eigene Person beziehen, der die Eigenschaften eines Felsens (wie Stabilität und Festigkeit) zugeschrieben werden, oder auf seine Verbundenheit mit einem Felsen, an dem er Halt und ein Fundament findet und so auch selbst zu einer Festigkeit, Klarheit und Entschiedenheit kommt, die ihm ohne die Verbindung zu diesem Felsen nicht eigen wäre.

Ich neige zu der letzteren Deutung. Denn im Evangelium wird uns von Petrus beides gesagt: dass er eine gutwillige, dominante und meinungsstarke Führungsfigur ist (und sein will), und dass er zugleich ungestüm, zu schnell im Urteil, zu sehr von sich überzeugt und am Ende feige ist und seinen Herrn verrät.

Beides, seine Stärken und Schwächen, wird Simon noch schmerzlich kennen lernen. In der Verbundenheit mit Jesus, der ihn bis auf den Grund erkannt hat, wird er lernen, sich selbst zu erkennen und sich anzunehmen, zu wachsen und zu lieben und in all dem ein Petros zu werden.

Der Felsen, auf dem die Kirche gebaut ist, ist nicht Petrus, sondern Jesus selbst – und die Beziehung zu ihm. In diesem Sinne deutet der heilige Paulus den Korinthern die Erzählung des wasserspendenden Felsens, der mit dem Volk Israel durch die Wüste zieht: „Sie tranken aus dem geistgeschenkten Felsen, der mit ihnen zog. Und dieser Fels war Christus.“ (1 Kor 10,4)

Die Kirche, so könnte man sagen, ist darauf gebaut, dass Menschen in Jesus Gott erkennen und von ihm erkannt werden. Petrus ist „der Felserne“, weil er mit dem Felsen verbunden ist und von dem Felsen her lebt, der Christus ist. Ihn hat er mit Gottes Hilfe erkannt. Von Ihm lässt er sich erkennen. Durch Ihn lernt er sich kennen und wird immer mehr der, der er von Gott her ist. Mit Ihm erkennt er auch seine Nächsten und lernt sie lieben, damit auch sie sich selbst und einander erkennen und in der Liebe wachsen.

Die Felsverbundenheit des Petrus ist ein Zeugnis, das im Dienst, im Amt und in der Person des Nachfolgers Petri weitergegeben wird.

Aber die Einladung, die Petrus und seine Nachfolger zu bezeugen haben, ergeht an alle: Wir dürfen Christus erkennen und uns von ihm erkennen lassen – und mit ihm auch einander erkennen.

Denn keiner kennt sich selbst von alleine. Den Menschen erkennt nur, wer ihn liebt.

Fra' Georg Lengerke

Tödliche und rettende Eifersucht Röm 11,13-15.29-32

Eifersucht kann sehr leidvoll sein. Eifersucht ist Beziehungsneid. Entweder kommt sie aus der Angst, die Zuneigung eines Menschen zu verlieren, oder aus dem Schmerz, dass die Zuneigung einem anderen mehr gilt als mir. Eifersucht macht Menschen misstrauisch und lässt sie schlecht von sich und anderen denken.

Viele Paare und Freundschaften haben mit der Eifersucht zu kämpfen. Bewährte Mittel dagegen sind nach meiner Erfahrung Dankbarkeit, die Einübung von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit durch gute Kommunikation und schließlich eine gemeinsame Ausrichtung auf ein Drittes – auf Menschen (Kinder, Gäste, Freunde, eine Gemeinschaft), auf ein gemeinsames Werk, auf Gott.

In der Bibel werden viele Eifersuchtsgeschichten erzählt: Kain und Abel, Esau und Jakob, Joseph und seine Brüder, Saul und David, Maria und Marta, die Spannung zwischen den Aposteln und in der neutestamentlichen Gemeinde. In der christlichen Spiritualität wird die Eifersucht zusammen mit dem Neid unter die Laster und die Todsünden gezählt.

Mir ist das sehr plausibel. Denn gerade der Neid und die Eifersucht sehen und suchen das Leben vergeblich immer in dem, was ich nicht habe und nicht bin, und sehen es schwinden mit dem, was sich mir entzieht. Und wer das Leben dauernd schwinden sieht, der lebt schon im Schatten des Todes.

Entsprechend verwerflich ist es, jemanden absichtlich eifersüchtig zu machen. Ich erinnere mich an Kinder- und Jugendfreundschaften, in denen das zum Repertoire der Beziehungskämpfe gehörte: dass einer dem anderen den Entzug oder die Neuausrichtung der eigenen Zuneigung vorspielte. Sei es, um bei ihm eine Äußerung der Wertschätzung zu provozieren oder um ihm weh zu tun. Der damalige Kinderschmerz ist mir noch immer präsent.

Umso erstaunlicher, dass es in der Bibel auch Stellen gibt, an denen eine bestimmte Eifersucht als zwar schmerzliche, aber positive Liebeskraft verstanden wird. Eifersucht ist hier das schmerzliche Vermissen einer Beziehung, die möglich und heilsam wäre.

Das Buch Deuteronomium z.B. beschreibt die eifersüchtige Liebe Gottes, der um sein Volk kämpft und nicht duldet, dass es sich an Mächte bindet, die es für Götter hält, obwohl sie es nicht sind, und so in sein Verderben rennt.

Dann wird die Eifersucht der Völker beschrieben, die Israel, das Volk Gottes, umgeben. Sie sehen, wie dieses Volk nach den Geboten Gottes lebt und in der Beziehung zu ihm gedeiht, und staunen über diese „große Nation“ und „ein weises und gebildetes Volk.“ (Dtn 4,6).

Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu und der Bildung der ersten Christengemeinden kehrt sich die Eifersuchtsgeschichte für den hl. Paulus um: Er schreibt über seine jüdischen Schwestern und Brüder, er hoffe, „die Angehörigen meines Volkes eifersüchtig zu machen und wenigstens einige von ihnen zu retten“ (Röm 11,14).

Nicht mehr die Heidenvölker sind eifersüchtig auf das Volk Gottes. Sondern dieses Volk, in dem Gott Mensch wurde und zu dem Jesus gesandt war, soll eifersüchtig werden auf die Heiden, die an Jesus glauben, in ihm die Gegenwart des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs erkennen, und in Gemeinschaft mit ihm erfahren, wie Gott sie aus der Sklaverei von Schuld und Tod erlöst und herausführt…

Heute frage ich mich, wo ich Gemeinschaften von Christen so erlebt habe, dass ich schmerzlich vermisst habe, zu ihnen zu gehören und Anteil an ihrer Beziehung zu Gott zu haben. Und wo erleben Menschen die Kirche heute so, dass sie ahnen, dass ihnen ohne Gott etwas fehlt, und in einer Weise, in der sie den Wunsch verspüren, mit anderen so an Gott zu glauben und mit ihm zu leben, wie die Christen es tun?

Und ich höre die Anfrage an meine Gemeinschaft – an die Malteser im Großen und der Hausgemeinschaft in München im Kleinen: Leben wir in einer ehrlichen und befreienden, stärkenden und zukunftsfähigen Beziehung mit Gott, die Menschen schmerzlich vermissen, bei uns finden und dann zu ihrer eigenen machen können?

Fra’ Georg Lengerke

Beieinander in der Unüberwindbarkeit Mt 14,22-33

Liebende wollen zueinanderkommen und beieinander sein. Um einander zu sehen. Um füreinander da zu sein – und miteinander da zu sein für andere.

Das ist nicht so einfach, sagt das Leben. Es gibt Hindernisse. Entweder zwischen den Liebenden oder in einem von beiden. „Sie konnten zusammen nicht kommen“, heißt es in der Ballade von den zwei Königskindern, „das Wasser war viel zu tief.“

Um das Zueinander-Kommen und das Beieinandersein von Liebenden geht es auch in der Erzählung vom Kommen Jesu zu den Jüngern im Boot auf dem See Genezareth. Und auch hier ist das Wasser im Gegenwind ein unüberwindliches Hindernis. Wasser ist hier ein Bild für alles, was die Liebenden hindert, zueinander zu kommen.

Zum Entsetzen der Freunde kommt Jesus über das Wasser zu ihnen. Auf eine schockierend unwahrscheinliche, eigentlich unmögliche Weise.

Wie sollen wir solche Wundererzählungen verstehen? Es scheint mir eindeutig, dass es sich nicht bloß um ein erzählerisches Bild handelt. Dafür sind die Evangelienberichte ansonsten zu nüchtern. Und wo Gleichnisse verwendet werden, werden sie immer als solche bezeichnet. Sagen wir es so: Es handelt sich um Verweise auf und Zeichen für eine unsichtbare Wirklichkeit, die sich so oder ähnlich wirklich ereignet haben. Die Jünger machen die Erfahrung, dass Jesus innerweltlich und leiblich zu ihnen auf eine Weise kommt, die menschlich nicht machbar ist und die das Unüberwindliche überwindet.

Was uns von Gott und die Liebenden voneinander trennt, das überwindet Gott in Jesus: Er nimmt einen menschlichen Leib an und überwindet den Abgrund der Sünde zwischen Gott und Mensch. Er überwindet den Graben des Hasses durch die Liebe, den Graben des Todes durch die Auferstehung und unsere zeitliche und örtliche Entfernung zu seiner geschichtlichen Menschwerdung durch die Sendung des Heiligen Geistes.

Ich habe erlebt, dass die Liebe eines Menschen die Wasser überwunden hat, die uns voneinander getrennt haben oder diesseits derer ich mich verrannt hatte. Diese Erfahrung hilft mir zu glauben, dass der, von dem die Christen sagen, dass er „die Liebe ist“, wirklich alle möglichen Hindernisse überwindet, um bei mir zu sein.

Wer liebt, der weiß auch, dass noch etwas dazukommt: nämlich die Ungleichzeitigkeit der Liebe. Wie viele Paare leiden daran: Sie ist bei ihm und für ihn da, aber er ist nicht bei ihr. Oder umgekehrt. – Sei es wegen Krankheit oder einer Persönlichkeitsveränderung, wegen anderer Prioritäten oder eines anderen Menschen, sei es aus Angst oder Ablehnung.

Wer anfängt, an Gott zu glauben, der beginnt zu erkennen, dass es Gott mit uns ähnlich geht: Gott ist immer bei mir. Aber ich bin nicht immer bei Gott – oft aus ähnlichen Gründen, wie in der Liebe zu Menschen.

Deshalb will Petrus auf dem See bei Jesus sein. Es genügt nicht, dass Jesus zu Petrus kommt. Der Jünger will seinerseits bei Jesus sein. Und so bittet er darum: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme!“ (Mt 14,28)

Ich meditiere diesen Satz manchmal weiter:
Sag mir, dass ich es kann;
sag mir, dass ich es darf
und dass ich es wollen soll –
weil Du es willst.
Du hast alles getan, um bei mir zu sein.
Nun lass mich Dir
das Unglaubliche glauben:
dass das Wasser mich trägt
und ich mit Deiner Hilfe zu Dir komme.
Schon heute.
Mitten im Leben.
Und einmal mit allen Liebenden
im Licht.

Fra' Georg Lengerke

Mythos wird Faktum (Verklärung des Herrn, Mt 17,1-9)

Viele alte Mythen erzählen von Göttern, die sterben und wieder auferstehen. Zum Beispiel die Geschichten von Balder, Adonis oder Bacchus. Worin besteht nun der Unterschied zu der Erzählung der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, seinem Tod und seiner Auferstehung?

In einem langen nächtlichen Gespräch mit zwei Freunden (einer davon J.R.R. Tolkien) fand C.S. Lewis die Antwort: „Nun, die Geschichte Jesu ist einfach ein wahrer Mythos: ein Mythos, der auf uns in der gleichen Weise wirkt wie die anderen, doch mit dem gewaltigen Unterschied, dass er sich tatsächlich ereignet hat.“ (C.S. Lewis an Arthur Greeves, 1931)

Nach der Verklärung Jesu auf dem Berg bestehen die Apostel darauf, dass sie nur das erzählen, was sie erlebt haben: „Wir sind nicht klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundtaten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe“, sagt der 2. Petrusbrief (1,16).

Aber wovon genau sind die Apostel Augenzeugen geworden? Vor einer Woche habe ich die Trauung eines Brautpaares gefeiert, die sich lieben lernten, als sie gemeinsam Trauzeugen von Freunden waren: Er vom Bräutigam, sie von der Braut. In der Ehevorbereitung hat uns das beschäftigt, was es bedeutet, wenn zwei Liebende Trauzeugen der Liebe eines anderen sind.

So haben wir miteinander die Texte aus der Heiligen Schrift gelesen, die von der Liebe Gottes zu seinem Volk in den Bildern von Braut und Bräutigam sprechen: In Hosea führt Gott sein Volk in die Wüste, umwirbt es und traut sich ihm an. Bei Jesaja schmückt sich die Braut für den Bräutigam und freut sich der Bräutigam über die Braut. Und im Evangelium ist Johannes der „Freund des Bräutigams“ Jesus (Joh 3,29), also so etwas wie der Trauzeuge der Welt für die Vereinigung von Gott und Mensch, die im Leben Jesu offenbar wird.

Zusammen mit dem Brautpaar ist mir klar geworden, dass Liebende ja immer auch „Trauzeugen“ für die Liebe Gottes zum Menschen sind. Und zwar nicht nur miteinander für andere, sondern auch einer für den anderen.

Bei vielen Trauungen kommt es einem so vor, als kämen zwei Menschen vor Gott, die ihn nun als Dritten hinzu- und um seinen Segen bitten. Und irgendwie stimmt das ja auch. Aber zuerst ist es andersherum: Nicht Gott kommt hinzu, sondern der liebende Mensch ist der Dritte, der hinzutritt zum geliebten Menschen, mit dem Gott sich schon längst in Liebe verbunden hat – in der Schöpfung, in der Taufe, im Glauben. Gott hat schon längst gesagt: „Ich nehme dich an…“. Und wenn Brautleute das einander sagen, dann stimmen sie ein in die Annahme Gottes, dann lieben sie mit der Liebe Gottes zusammen und bringen diese als Liebende zum Vorschein.

Gott hat sich mit meinem Nächsten schon vereinigt. Und zwar unbedingt und unauflöslich. Auch von dieser Verbindung sagt Jesus: „Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ (Mt 19,6)

Bei der Verklärung Jesu auf dem Berg wird den drei Jüngern mit einem Schlag die Gegenwart Gottes und die Einheit von Gott und Mensch in diesem einen Menschen Jesus auf überwältigende Weise vor Augen geführt und ins Herz gebrannt.

Jesus Christus ist der vollkommen mit Gott verbundene Mensch – ja er selbst ist „wahrer Gott und wahrer Mensch“ (Chalzedon 451 n.Chr.). Und in seiner Menschwerdung hat sich Gott mit jedem Menschen verbunden, sagt das zweite Vatikanische Konzil. Nun kann der Mensch sich seinerseits mit Gott in Jesus verbinden, in dem er „auf ihn hört“ (Mt 17,5) und zu ihm gehört und mit ihm liebt.

Auch C.S. Lewis wurde etwas ins Herz gebrannt. Weniger spektakulär als auf dem Berg der Verklärung, sondern in einem nächtlichen Gespräch mit Freunden, die ihm weitererzählt haben, was die Apostel sagten: „Wir waren Augenzeugen … Wir haben die Stimme gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren.“ (vgl. 2 Petr 1,16.18)

In Jesus ist der Mythos ein Faktum geworden.

Fra' Georg Lengerke