Denkend lieben Mt 22,34-40

Überall große Gefühle. In Filmen und Büchern, in Netzwerken und in der Werbung, auf Partys und Demonstrationen, in Parteien und in der Kirche, in Beziehungen oder in der Vorstellung von ihnen. Unsere Zeit schätzt die Emotion, das Empfinden und die Empfindsamkeit sehr hoch und lehnt das allzu Rationale, Verkopfte und Komplizierte ab.

Mit der einseitigen Betonung des Gefühls und der Empfindsamkeit geht aber auch eine niedrige Schwelle des Empörtseins und Verletztseins einher. Und die hat Folgen für unsere Beziehungsfähigkeit.

Jesus wird gefragt, was das Wichtigste im Leben sei. Als Antwort zitiert er zwei Stellen aus dem Alten Testament: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken.“ Und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Allerdings gibt es bei dem Gebot der Gottesliebe eine kleine Änderung: Im zitierten Buch Deuteronomium wird gesagt, Gott solle „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ geliebt werden. Im Evangelium steht da statt „mit ganzer Kraft (dynamis)“ „mit deinem ganzen Denken (dianoia)“.

Diese kleine Änderung ist von großer Bedeutung. Offenbar sollen wir nicht nur herzlich und innerlich, gemütvoll und leidenschaftlich, sondern auch denkend lieben.

Es hat in der Geschichte der Kirche immer wieder Bewegungen und theologische Schulen gegeben, in denen das Denken gegen das Fühlen ausgespielt und ein irrationales und gefühlsorientiertes Glauben und Lieben propagiert wurde. Die Kirche hat sich dagegen immer gewehrt. Glaube und Liebe brauchen beides: Herz und Verstand, Empfindung und Vernunft.

Zur Liebe gehört auch, sich lieben zu lassen und sich ergreifen zu lassen von einer Dynamik, die unser Verstehen und Begreifen letztlich übersteigt. Aber dennoch ist es wichtig, dass wir die Dynamik selbst verstehen und erkennen, wohin sie uns führt. Was mitreißend ist, ist noch lange nicht gut.

Thomas von Aquin sagt, alle Sünde komme aus der „ungeordneten“ Liebe zu sich selbst. Liebe kann also in der Tat Sünde sein, wenn sie in die falsche Richtung mitgerissen wird.

Mich hat diese Woche die Frage beschäftigt, was das für mich heißt: „mit meinem ganzen Denken lieben“.

Gott lieben bedeutet zugleich Jesus Christus lieben, in dem er sich uns als Mensch offenbart – und dann auch meine Nächsten, die er nicht ohne mich lieben will. Gott in Jesus „denkend lieben“ heißt für mich:

1. An Jesus denken. Nach ihm fragen: nach seinem Ergehen und seinen Wegen, nach seinen Absichten und seinem Willen. In den Erzählungen aus seinem irdischen Leben, aber auch als unsichtbar Gegenwärtigem in dieser meiner Stunde. In allem ihm denkend verbunden sein.

2. Von Jesus Christus gut denken. Für ihn auch im Krisen- und Verdachtsfall die Unschuldsvermutung gelten lassen und zunächst das Gute annehmen. Seine Aussage im Zweifelsfall zu retten und vom Besten ausgehen, das er gemeint haben könnte (Ignatius von Loyola).

3. Bedenken, was Gott (in der Heiligen Schrift, in Jesus, in seinen Zeugen) gesagt hat und noch sagt. Seine Worte „im Herzen bewegen“, sie mir einprägen, sie immer tiefer verstehen und in meinem Leben wirksam werden lassen. Die Engländer haben dafür das schöne Wort „to ponder“.

4. Mit Christus mitdenken. Sein Denken kennen und verstehen lernen. Mit seinen Gedankengängen vertraut werden und sie mitvollziehen – besonders sein Denken vom Menschen.

Wenn wir Gott in Jesus Christus so „denkend lieben“, beginnt eine Veränderung:

Wir werden souveräner im Umgang mit unseren Gefühlen, die wir besser verstehen und die weniger Macht über uns haben.

Wir werden mitgenommen in eine Intimität mit Gott und eine Bewegung in ein erfülltes Leben mit den Anderen, die unser Verstehen übersteigen.

Und wir beginnen von unseren Nächsten anders zu denken. Auch da, wo unser Gefühl vielleicht zunächst zurückweicht oder zögert. Nüchterner und zugleich liebender.

Fra' Georg Lengerke

Divine Branding – Göttliches Markenzeichen Mt 22,15-21

Am Flughafen stehe ich vor einer riesigen Leuchtreklame. Den Schauspieler darauf kenne ich. Er hat mir mehrere Geschichten erzählt, die mich bewegt und beschäftigt haben. Nun steht er vor einem Abendhimmel und schaut markig an mir vorbei in die Ferne. Neben ihm eine Lampe, für deren Hersteller er Werbung macht.

Irgendwie fühle ich mich ausgetrickst. Meine Verehrung für seine Rolle in einer für mich wichtigen Geschichte wird genutzt, um mir eine Lampe aufzuschwatzen, die ich nicht haben möchte.

Die Verbreitung einer Marke nennt man in der Wirtschaft „Branding“. So wie in der Viehwirtschaft Rinder mit dem Brandzeichen ihres Eigentümers versehen werden, wird eine Identifikation zwischen einer Marke und bestimmten Gütern hergestellt.

Als Schauspieler stand der Mann auf der Leuchtreklame für Geschichten, die eine weitergehende Bedeutung haben. Mal als Bösewicht, mal als Held. Hier am Flughafen steht er nur noch für das Branding einer Lampenfirma, deren Vertreter er geworden ist.

Mich erinnert das an das buchstäbliche Branding in der amerikanischen Serie „Yellowstone“. Die Cowboys der gleichnamigen Farm sind Leibeigene geworden. Sie tragen auf der Brust ein Brandzeichen, ein „Y“. Sie gehören dem Farmer. Wie die Farm und das Vieh.

Um eine Art Branding geht es letztlich auch in der heute gelesenen Auseinandersetzung im Evangelium.

Zwei verfeindete Gruppen tun sich gegen Jesus zusammen. Sie sind von lobhudelnder Freundlichkeit und wollen ihm mit einer Frage eine Falle stellen: „Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht?“, fragen sie. Die einen möchten von ihm hören, dass man keine Steuern zahlen darf, um ihn als Aufrührer anzuklagen. Die anderen wollen von ihm hören, man dürfe Steuern zahlen, um ihn als Kollaborateur mir den Römern zu denunzieren.

Jesus beantwortet die Frage nicht. Er lässt sich einen Silberdenar geben und fragt zurück: „Wessen Bild und Aufschrift ist das?“ „Des Kaisers“, antworten seine Widersacher. Darauf Jesus: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“

Aber was ist denn „des Kaisers“? Und was ist „Gottes“? Wir können die Frage allgemeiner stellen: Wem kommt was zu? Wem schulden wir was?

Dem Kaiser, der „Obrigkeit“, oder der Gemeinschaft schulden wir Gehorsam gegenüber den Regeln, einen Anteil an den Kosten, eine Mitwirkung zur Erreichung gemeinsamer Ziele. Aber wir schulden ihnen nicht uns selbst. Wir gehören ihnen nicht.

Gott aber kommt zu, was keinem Menschen zukommt: Als erstes Dankbarkeit für alles, was ist, für alle Geber und alle Gaben. Dann eine Liebe, die alles kosten darf. Und dass ich Ihn in allen Dingen suche und Seinen Willen tue. Schließlich kommt allein Ihm Anbetung zu, in der ich mich und die Meinen Ihm unbedingt anvertraue und von Ihm alles erhoffe und erwarte.

Für die frühen Theologen der Kirche geht es bei der Geschichte mit der Steuerdrachme nicht nur darum, wem was gehört und zukommt. Es geht darum, wem und zu wem wir gehören.

„Diejenige Goldmünze gehört dem Kaiser, die sein Bild trägt“, schreibt Hilarius von Poitiers im vierten Jahrhundert. „Die Münze aber, die Gott gehört, ist der Mensch, in den das Bild Gottes eingezeichnet ist. Darum gebt euren Reichtum dem Kaiser, euer reines Gewissen aber bewahrt für Gott.“

Auch in der Kirche gibt es also eine Art Branding. Aber ein ganz anderes als das am Flughafen oder das in „Yellowstone“. Sie spricht von einem „unauslöschlichen Prägemal“, das wir durch Glaube und Taufe tragen. Eine Art „divine branding“, ein göttliches Markenzeichen.

Wir gehören nicht dem Kaiser und keiner Macht der Welt. Wir haben uns nicht verkauft. Wir gehören Jesus Christus. Der will sich uns einprägen. Nicht damit wir ihm gehören, wie die Cowboys dem Farmer oder der Vertreter der Marke. Sondern damit wir wieder werden, was wir ursprünglich sind:

Menschen, die zur Liebe befreit sind.

Fra' Georg Lengerke

Zieht Euch um! Mt 22,1-14

Als Abgeordneter eines deutschen Parlamentes unternahm ein Freund von mir eine Auslandsreise in einer Gruppe von Parlamentariern verschiedener Parteien. Normalerweise, sagt mein Bekannter, herrscht bei solchen Reisen abseits der medialen Öffentlichkeit ein gutes kollegiales Einvernehmen über Parteigrenzen hinweg.

Hier aber waren zwei dabei, die so taten, als sei der jeweils andere nicht da. Sie sahen sich nicht an, sprachen nicht miteinander und gaben sich nicht die Hand. Nicht, weil einer dem anderen etwas getan hätte, sondern weil sie verschiedenen Parteien angehörten und einer mit dem anderen nichts zu tun haben wollte.

Der Freund ist politisch nicht unerfahren. Aber solche Feindseligkeit, sagt er, sei ihm neu. Und zwar nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kirche.

Im Evangelium erzählt Jesus heute ein Gleichnis vom Reich Gottes, das er mit einer antiken Königshochzeit vergleicht: Ein König lädt zur Hochzeit seines Sohnes ein. Alles ist bereit. Doch die mehrmals Eingeladenen sagen aus lächerlichen Gründen ab und misshandeln die Boten. Der Kreis der Eingeladenen weitet sich aus. Die Boten, sagt Jesus: „holten alle zusammen, die sie trafen, Böse und Gute, und der Festsaal füllte sich mit Gästen.“

Jesus spricht hier von der Kirche, vom Leben in Gemeinschaft mit Gott, das auf Erden beginnt. Zu ihr gehören „Böse und Gute“. Das muss mir klar sein, wenn ich dabei sein will. Ich finde mich nicht nur unter Freunden oder unter guten Menschen wieder, weder in der „Allianz der Anständigen“ oder bei der „Achse des Guten“. Ich finde mich wieder unter „Bösen und Guten“, die von einem gemeinsamen Gastgeber gerufen wurden und später gesandt werden.

Das scheint mir eines der großen Leiden in der Kirche heute zu sein: Dass wir die nicht ertragen, die wir für böse halten oder die wirklich „Gutes unterlassen und Böses getan haben“. Wir ertragen sie nicht, obwohl wir in jeder Messe bekennen, dass wir auch zu ihnen gehören.

Es gibt ein schönes Wort von Gregor dem Großen (+604 nach Chr.) über die Einladung an Böse und Gute. Er schreibt: Jesus „sagt das, weil in dieser Kirche weder die Schlechten ohne die Guten, noch die Guten ohne die Schlechten sein können. Und wer sich weigert, die Schlechten zu ertragen, der kann selbst nicht gut sein.“

Es geht also wieder einmal nicht um die Anderen, sondern um mich. Ich soll „die Schlechten ertragen“, wenn ich gut sein – oder besser: gut werden will.

Das ist mit dem Hochzeitsgewand gemeint. Einer der Gäste hat keines an, weiß sich nicht zu rechtfertigen und fliegt raus.

Das Anziehen eines Kleides ist im Alten Testament ein Bild für den Menschen, der von Gott geschmückt wird für die Gemeinschaft mit ihm. Im Neuen Testament ist es ein Ausdruck für die Haltung Gottes zu uns, die unsere Haltung zueinander prägen soll: „Bekleidet euch also, als Erwählte Gottes, Heilige und Geliebte, mit innigem Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Geduld!“ schreibt Paulus der Gemeinde in Kolossä (Kol 3,12). Mit dem Erbarmen und der Güte, die Gott für Euch hat und die Ihr für die anderen haben sollt.

An diesem Wochenende werden neue Mitglieder in die Gemeinschaft junger Malteser aufgenommen. Auch wenn es bei uns kein Ordensgewand gibt, ist das eine schöne Gelegenheit, dass wir uns zusammen mit ihnen „geistlich umziehen“. Dass wir die alten Klamotten des Ressentiments und der Parteilichkeit ablegen und das Hochzeitsgewand von Gottes „Erbarmen, Güte, Demut, Milde und Geduld“ anziehen. Erstens, weil wir sie nötig haben. Zweitens, weil wir sie füreinander brauchen, wenn wir uns nicht entzweien lassen wollen.

So schafft Gott aus „Bösen und Guten“ eine Gemeinschaft von Menschen, die in aller Verschiedenheit und allem Ringen um den rechten Weg einander und den Fremden im Tiefsten gut sind.

Denn sie haben miteinander erfahren, dass Gott ihnen gut ist. Und zwar um jeden Preis.

Fra' Georg Lengerke

„Sie werden ihrem Machwerk gleichen.“ (Psalm 115,8)

Biblische Anfragen an die Künstliche Intelligenz (KI)

Deutschlandfunk, „Am Sonntagmorgen“, 8. Oktober 2023

„Wieso »biblische Anfragen an die Künstliche Intelligenz«?“, fragte mich ein Bekannter, als er vom Titel dieser Sendung hörte. „Zur Zeit der Bibel gab es doch noch gar keine Künstliche Intelligenz!“ Das stimmt. Aber viele Fragen, vor die uns die Entwicklung der digitalen Netzwerke stellt, sind gar nicht neu: Was ist der Mensch und was die Maschine? Dienen die Dinge dem Menschen oder der Mensch den Dingen? Und was darf der Mensch an die Maschine delegieren?

Wenn Sie hier bereits ein Unbehagen verspüren, dann sind wir schon mitten im Thema. Sind die treue Mitbewohnerin „Alexa“, der Bot ChatGPT, der Pflegeroboter „Pepper“ oder der Segenscomputer „BlessU-2“ wirklich nur „Maschinen“? Sprechen wir nicht mit ihnen? Müssen wir ihnen nicht dankbar sein? Ist also das Wort „Maschine“ für diese Alltagsgefährten nicht geradezu respektlos?

Als künstliche Intelligenz bezeichnen wir die Fähigkeit einer Maschine bzw. eines Netzwerks von Rechnern, eine stetig wachsende Menge von Informationen auf eine dem menschlichen Gehirn nachempfundene Weise zu verarbeiten und zu kombinieren.

Wie stehen diese hochkomplexen Computersysteme nun zum Menschen?

Segen der Technik?

In der biblischen Schöpfungsordnung ist der Mensch einzigartig. Gott schafft den Menschen als sein „Bild“ (Gen 1,27). Damit ist nicht eine Darstellung oder Kopie Gottes gemeint, der woanders im Original zu bewundern wäre. Der Mensch ist vielmehr als „Versichtbarung“ des unsichtbaren Gottes geschaffen.

Die Berufung und das Ziel des Menschen ist nach der Heiligen Schrift die vollendete Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen. Um diese Berufung zu verwirklichen und dieses Ziel zu erreichen, sind dem Menschen als Gaben Gottes die sichtbare Welt anvertraut und die Dinge in ihr, seine Begabungen und die Werkzeuge, die er baut.

Zunächst also ist Dank angesagt. Dank für die Gaben der Schöpfung. Dank für die Begabung von Menschen. Und Dank für das, was Gott den Menschen erfinden und bauen lässt. Und schließlich Dank für das, was dem Menschen durch die Technik an Gutem geschenkt ist: die Heilung von Krankheiten, die Abwendung von Katastrophen und die Abnahme von Arbeit, die den Menschen von sich selbst entfremden, weil sie stumpf, gefährlich oder krankmachend ist.

Der Segen der Technik besteht darin, den Menschen immer mehr zu jenen Arbeiten und Beschäftigungen zu befreien, die seiner Berufung entsprechen. Vom Fluch der Technik wäre zu sprechen, wo sie den Menschen von sich selbst entfremdet. Wir haben die Wahl zwischen Segen und Fluch (vgl. Dtn 30). Wir sollen die neuen Rechensysteme nutzen, wo sie der Erreichung unseres Lebenszieles dienen, und sie lassen, wo sie uns daran hindern [1] – und wo nicht mehr sie uns, sondern wir ihnen dienen.

Was ist der Mensch?

Mit der neuesten Generation von Computern und der sogenannten „künstlichen Intelligenz“ stellt sich allerdings noch eine grundsätzlichere Frage. Denn diese sind nicht mehr bloß eine werkzeugliche Erweiterung des Vermögens des Menschen, sondern ein vermeintliches Gegenüber, das eigenständig zu kommunizieren scheint.

Gott schafft den Menschen „nach seinem Bild“, sagt die Bibel. Der Mensch schafft den Computer „nach seinem Bild“, sagt die Gegenwart. Allerdings nicht als Versichtbarung des Menschen, den man ja schon sehen kann, sondern als seine Imitation.

Was unterscheidet nun das Original von seiner Imitation? Auch die neuesten Rechensysteme sind ein technisches Produkt. Wie komplex auch immer sie werden, sie bleiben theoretisch berechenbar und nachvollziehbar.

Der Mensch jedoch geht nicht in dem auf, was man von ihm sehen und berechnen kann. Er ist ein Wesen aus Fleisch und Blut und mit Geist begabt. Er kann sich auf sich selbst beziehen, also Dank und Reue empfinden, Verantwortung übernehmen und sich für die Zukunft versprechen. Der Mensch kann seinen Nächsten erkennen und anerkennen, ihn meinen und lieben. Und er kann den Sinn seines Lebens in einer Liebe finden, die über sein eigenes Leben hinausgeht und für die sich zu leben und zu sterben lohnt.

Alles das macht die Gottesbildlichkeit des Menschen aus und unterscheidet ihn von jeder Maschine. Die Maschine kann ein Gerichtsurteil errechnen, aber sie kann es nicht vertreten. Ihr fehlt die Freiheit. Sie ist zu einem Zweck gemacht, den sie sich nicht gewählt hat und zu dem sie sich nicht verhalten kann. Die Maschine kann sagen „Ich liebe dich“, aber sie kann es nicht meinen. Deshalb kann uns die Maschine auch nie sein, was der Mensch uns sein kann. Denn wir leben davon, geliebt und also gemeint zu sein.

Die Maschine ähnelt dem Menschen also nur zum Schein. Der Begriff „künstliche Intelligenz“ ist darum irreführend. Intelligenz bedeutet Erkennen. Und künstlich ist, was sich der Kunst des Menschen verdankt. Aber der Mensch kann nicht machen, dass eine Maschine erkennt. Denn dazu gehören Geist und Freiheit. Und die sind nicht herstellbar.

Der Mensch – die schlechtere Maschine?

Der Wunsch des Menschen, ein technisches Etwas zu schaffen, das ihm gleicht, verändert das Bild, das er von sich hat:

Zum einen hält er sich selbst für eine Art „Schöpfer“, der – wie Gott – ein Wesen nach seinem Bild schafft. Damit ist er der ältesten Versuchung ausgesetzt, den die Bibel kennt: „Sein wie Gott“ – aber ohne Gott (Gen 3,5).

Zum anderen besteht die Gefahr, dass er sich selbst für eine Art Maschine hält, die genetisch verbessert und technisch ergänzt werden kann. Der Computer ist dann nicht mehr das technische Bild des Menschen, sondern der Mensch das biologische Bild des Computers.

Aber ist der Mensch dann nicht die schlechtere Maschine? Ist er nicht leistungsschwächer, fehleranfälliger und hoffnungslos unmodern? Wen wundert es da, wenn der Mensch einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der „künstlichen Intelligenz“ entwickelt?

Für Juden und Christen ist die Gottesbildlichkeit die Grundlage der absoluten Würde des Menschen. Und die ist unvergleichlich zum relativen Wert der Maschine. Für die Kritiker der Gottesbildlichkeit ist sie jedoch entweder Hybris oder Sklavenmentalität.

Aber ist Hybris nicht vielmehr, eine Maschine als den „besseren Menschen“ erschaffen zu wollen? Und ist es nicht Sklavenmentalität anzunehmen, der Mensch sei die schlechtere Maschine, die der besseren Maschine zu dienen hat?

Wachstum oder Verlust der Talente?

Wie verändert nun der Umgang mit einer dem Menschen nachempfundenen Technologie den Menschen? Auch hier gilt, dass sie ihn – je nach Umgang – klüger oder törichter machen kann, weitsichtiger oder beschränkter, kultivierter oder verwahrloster.

Wir vertrauen uns immer mehr der Maschine an. Das hat Folgen für unsere eigenen Fähigkeiten: Mein Orientierungssinn schwindet, wenn ich auch die vertrautesten Wege nur noch mit Navigator fahre. Meine Handschrift wird ungelenk, wenn ich nur noch tippe und diktiere. Und ich verblöde, wenn mir ein Informationsprogramm die Mühe abnimmt, mich von der Wahrheit einer Information zu überzeugen und mir aus verschiedenen Quellen eine Meinung zu bilden und diese zu vertreten.

Vom rechten Umgang mit den Gaben oder Talenten, die der Mensch von Gott bekommen hat, handelt ein Gleichnis, das Jesus im Evangelium erzählt. Sie werden mehr, je mehr sie eingesetzt werden, und weniger, je ängstlicher oder fauler sie zurückgehalten werden. Bis es schließlich heißt: „Wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ (Mt 25,29)

Wo wir auf die Dauer elementare Fähigkeiten an die Maschine delegieren, besteht die Gefahr, dass wir sie verlernen und verlieren – und so unsere Talente verkommen lassen. Und dass wir immer abhängiger werden von den Geräten, deren scheinbare Dienstbarkeit sich als immer größere Macht über uns entpuppt.

Delegation von Verantwortung?

Brisant jedoch ist nicht nur die Delegation von Fähigkeiten, sondern auch die Delegation von Verantwortung. Schon jetzt erstellen die ersten Programme Rechtsgutachten, medizinische Diagnosen oder strategische Einschätzungen für den Kriegsfall. Noch besteht bei Juristen, Medizinern und Strategen eine gesunde Skepsis. Aber je größer die Datenlage und je komplexer deren Berechnungen werden, umso größer wird die Versuchung, die „künstliche Intelligenz“ nicht nur als Entscheidungshilfe zu nutzen, sondern sie zum Entscheidungsträger zu machen.

Dann wird der Mensch es nicht gewesen sein wollen. Wie Adam nach dem Sündenfall. Er versteckt sich und gibt seiner Frau und Gott die Schuld: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben.“ (Gen 3,12) – Ich war’s nicht, wird der Mensch sagen. Die Maschine, die Du mich hast erfinden lassen. Sie hat den Krieg erklärt.

Dinge dutzen?

Was bedeutet es schließlich, dass wir dazu gebracht werden, Maschinen so zu behandeln, als wären sie Menschen? [2] Die Sache ist nicht harmlos. Denn uns wird ja suggeriert, dass wir mit einem personalen Wesen kommunizieren. Wir werden angehalten, auch zu der Künstlichen Intelligenz höflich zu sein. Kindern wird gesagt, zu Alexa bitte und danke zu sagen. Wir sollen so tun, als wäre die Maschine, was sie nicht ist: ein personales Gegenüber, dem wir durch Respekt und Dankbarkeit die Ehre geben sollen.

In der Bibel nimmt diese Frage großen Raum ein. Nämlich überall da, wo das Volk Israel den Götzenkult der Heiden kritisiert. Der Philosoph Robert Spaemann [3] hat die Parallele zwischen dem Umgang mit den heidnischen Götzen der Antike und dem Umgang mit dem Computer heute beschrieben: Hier wie dort versteht sich der Mensch nicht mehr als Bild Gottes, sondern als Abbild seines eigenen Machwerks, dem er mehr vertraut als sich selbst. Von denen, die diese Machwerke gemacht haben, heißt es im biblischen Psalm 115: „Sie werden ihrem Machwerk gleich.“ (Ps 115,8)

Für das Volk Israel war das Verderbliche an der Verwechslung von Etwas und Jemand offensichtlich. Im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wussten sie: Die Götzen sind nichtig. Und die, die sie verehren, werden es auch (Jes 44,9).

Ich empfinde Unbehagen, wenn ich zu einer Maschine Du sagen soll. Weil es eine Lüge ist. Sie ist kein Du, sondern ein Es. Sie ist etwas, nicht jemand. Wir dürfen ihr nicht die Ehre geben. Ihr kommt kein Respekt zu, sondern pflegliche Behandlung, wie meinem Kühlschrank oder meiner Zahnbürste.

Für die ersten Christen war eine ähnliche Frage zugleich eine Frage von Leben und Tod: Der Kaiser ist nicht Gott. Und wir werden nicht so tun, als ob er es sei. Die Maschine ist kein Mensch. Und wir sollten nicht so tun, als ob sie es sei.

Wächst die Verantwortung mit?

Je wirksamer das Werkzeug, umso mächtiger der Mensch. Sei es zum Segen oder zum Fluch für die Menschheit. Nicht das Werkzeug an sich ist gefährlich, sondern der, der es einsetzt. „Messer, Gabel, Schere, Licht“ gehören sprichwörtlich nicht in die Hand von Kindern. Ob die „Künstliche Intelligenz“ in der Hand des Menschen gut aufgehoben ist, muss sich erst noch zeigen. Sie befähigt zu segensreichen Lösungen großer Probleme, wie zu schrecklichen Verbrechen, die verheerende Folgen für die Menschheit haben können.

In seiner Enzyklika über die Hoffnung schreibt Papst Benedikt XVI.: „Wenn dem technischen Fortschritt nicht Fortschritt in der moralischen Bildung des Menschen, im »Wachstum des inneren Menschen« (vgl. Eph 3, 16; 2 Kor 4, 16) entspricht, dann ist er kein Fortschritt, sondern eine Bedrohung für Mensch und Welt.“ [4]

Es sollte uns also um Bildung von Herz und Verstand gehen und um das Wachstum des inneren Menschen. Dann kann, was die Möglichkeit hat, die Welt zu verderben, in der Wirklichkeit ein Werkzeug zu ihrer Verbesserung werden.

[1] vgl. Ignatius von Loyola, Prinzip und Fundament

[2] Einer der Gründer von ChatGPT hat neulich gesagt, der Dialog-Charakter der ChatBots, mit denen wir kommunizieren, sei nicht etwa technisch notwendig, sondern bloß ein Marketing-Trick. Quelle: John Schulman of OpenAI on ChatGPT: invention, capabilities and limitations, https://www.youtube.com/watch?v=nM_3d37lmcM&t=515s, Min 8:35 bis 10:06 (abgerufen am 24.09.2023).

[3] Robert Spaemann, Meditationen eines Christen. Eine Auswahl aus den Psalmen 52-150, Stuttgart 2016, S. 154-156, Eine zweite Meditation von Psalm 114/115

[4] Benedikt XVI. Spe salvi 22.

Anspruch und Wirklichkeit Mt 21,28-32

Ich sitze im Zug nach Köln und habe 23 Minuten Verspätung. Der BetDenkzettel, den ich gerade schreibe, hätte schon gestern fertig sein sollen. Auf eine für vorgestern versprochene Antwort warte ich noch heute.

Anspruch und Wirklichkeit fallen auseinander. Dauernd. Das ist einerseits ärgerlich, andererseits ist das normal.

Normal ist es, weil Anspruch und Wirklichkeit zwei verschiedene Sachverhalte sind. Die Wirklichkeit ist das, was ist. Der Anspruch ist das, was sein soll. Die Wirklichkeit ist, dass ich um 6 Uhr schlafe. Der Anspruch ist, dass ich um 6 Uhr aufstehe.

Ärgerlich ist das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit, wenn beide nicht zueinander finden und es um wichtige Dinge geht.

Noch ärgerlicher ist, wenn Menschen beginnen, sich daran zu gewöhnen, dass Anspruch und Wirklichkeit unverbunden nebeneinander stehen.

So geht es mir gerade mit der Bahn. Manchmal auch in der Kirche oder mit manchen Menschen. Und leider manchmal auch mit mir selbst.

Ganz schlimm wird’s, wenn dieses Auseinanderfallen den Enttäuschten dann irgendwann wurscht ist. Der unverwirklichte Anspruch ist dann nur noch Gerede. Und die unangesprochene Wirklichkeit gilt als unverbesserlich oder nicht mehr zu retten.

Dahin soll es bei mir nicht kommen, wenn es um meine Nächsten geht. Oder um die Kirche. – Oder sogar um die Bahn.

Wenn Anspruch und Wirklichkeit sich partout nicht finden und nicht übereinkommen, dann stimmt entweder etwas mit dem Anspruch oder mit der Wirklichkeit nicht.

Jesus erzählt von zwei Söhnen, die der Vater zum Arbeiten in seinen Weinberg schickt. Der eine sagt nein und geht doch. Der andere sagt ja und geht nicht.

„Wer hat den Willen seines Vaters erfüllt?“, fragt Jesus. „Der Erste“, lautet die richtige Antwort seiner Zuhörer. Da dachten sie vielleicht noch, Jesus wolle mit ihnen ein akademisches Gespräch über das rechte Tun führen.

Doch dann werden sie mit dem ungeheuerlichsten Vergleich konfrontiert: „Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ Nicht, weil „Zöllner und Dirnen“ in Wirklichkeit die besseren, authentischeren oder normaleren Menschen wären. Wir dürfen uns da ruhig den schlimmsten Vergleich mit Leuten vorstellen, mit denen wir ungern in einem Atemzug genannt werden würden…

Die „Zöllner und Dirnen“ sind die, deren Lebenswirklichkeit soweit vom Anspruch Gottes, also vom Anspruch des Guten, der Wahrheit und der Liebe entfernt ist, dass die „normalen Leute“ sich gegraust abwenden. Damals wie heute.

Sie, sagt Jesus, haben der Stimme Johannes‘ des Täufers, der Stimme der Gerechtigkeit und der Umkehr geglaubt. – Ihr aber nicht. Und selbst als sie geglaubt und sich bekehrt haben und Ihr das gesehen habt, habt Ihr nicht geglaubt.

Ihr habt Euch unerreichbar gemacht. Ihr habt Euch eingerichtet. Ihr merkt gar nicht mehr, dass Ihr nur noch so tut, als ob.

Die „Zöllner und Dirnen“, die sich vom Anspruch Gottes haben erreichen lassen, stellen mich vor die Frage, ob das bei mir so ist: Ob ich ja sage, aber nicht tue, was ich bejahe. Oder ob ich nein sage und es mich reuen sollte.

Wie wäre das, wenn der Anspruch des Guten und die Wirklichkeit eins wären? Es gibt einen Menschen, bei dem das der Fall ist. Jesus ist das Wort und der Anspruch Gottes in Person. Jesus ist, was er sagt. Und er sagt, was er ist.

Ihm kann ich glauben, dass sein Anspruch keine Überforderung, keine Verfremdung und keine Verengung meines Lebens bedeutet. Sondern ein Wachsen ins Eigentliche und in eine immer größere Freiheit.

Und an ihm liebe ich, dass er das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit erträgt – bis dahin, dass er ausgespannt zwischen Himmel und Erde stirbt und noch im Sterben liebt.

Und mit ihm will ich die unerlöste Welt aushalten und lieben, weil seine Liebe die einzige Macht ist, die die Welt und uns Menschen erlösen und heil machen kann.

Und dann ist die Deutsche Bahn mein kleinstes Problem.

Fra' Georg Lengerke