22.12.2024 Lk 1,39-45
Die Erde ist in Bewegung. Wenn zwei Erdplatten sich aufeinander zu bewegen, bauen sich Spannungen auf. Wenn sich diese Spannungen entladen, spricht man von einem tektonischen Beben. Bei solchen Erdbeben kann mehr als das Hundertfache der Energie einer Wasserstoffbombe freigesetzt werden.
Das heutige Evangelium erzählt von dem Besuch Mariens bei ihrer Verwandten Elisabeth. Maria ist seit kurzem, Elisabeth schon einige Monate schwanger. Es ist eine anrührende, zarte und verborgene Begegnung. Und dennoch eine von einer ungeahnten Tragweite.
Unzählige Bilder wurden gemalt und Texte gedichtet, wie die beiden sich aufeinander zu bewegen. Maria, die jüngere, kommt zu Elisabeth, der älteren. Beide Frauen stehen nicht für sich allein. Beide sind schwanger. Beide sind Trägerinnen von etwas Größerem.
Elisabeth trägt in sich Johannes den Täufer. Von dem hatte der Engel seinem Vater Zacharias gesagt, er werde jener geisterfüllte Prophet sein, der – ähnlich dem großen Elija – die Menschen zu Gott bekehren, dem Herrn vorangehen und das Volk für seine Ankunft vorbereiten wird.
Maria trägt in sich Jesus, den man nach der Botschaft des Engels an sie „Immanuel – Gott mit uns“ und „Sohn Gottes“ nennen wird und mit dem das Reich Gottes anbrechen, die Verwandlung der Welt und die Erlösung der Menschheit beginnen wird.
Diese Begegnung dieser beiden Frauen in dem kleinen Ort Ein Karem zwei Fußstunden westlich von Jerusalem ist mehr als nur ein verwandtschaftlicher Besuch.
Es ist eine Begegnung am Wendepunkt der Weltgeschichte. Es die Begegnung von zwei Zeitaltern, von zwei Hälften der Geschichte. Als bewegten sich zwei kontinentale Erdplatten aufeinander zu, bis die Spannung sich entlädt und es zu einem Beben kommt, das die ganze Erde erfasst.
Elisabeth trägt in sich eine Verheißung. Maria trägt in sich deren Erfüllung. Elisabeth trägt in sich eine Erwartung. Maria trägt in sich die Ankunft.
Sie gehen aufeinander zu. Und auf vielen Bildern rühren sie einander an. Die eine spürt in sich die Spannung der Erwartung und der Verheißung und wie sie sich löst, als mit der anderen die Ankunft und Erfüllung nahe ist. Es muss wie ein Beben in ihr gewesen sein, als in Elisabeth das Kind vor Freude hüpft.
Und die, welche in sich die Verheißung und Erwartung und die Sehnsucht der ganzen Welt nach Gottes Kommen in sich trägt, jubelt. Und ihr Jubelruf ist zu einer der häufigsten Anrufungen der Christenheit geworden: „Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“
Die Gegenwart des menschgewordenen Gottes ist noch verborgen. Aber „die Mutter des Herrn“ ist schon da, und also ist er, der Herr, schon nah.
Dies ist der Moment, in der die Erwartung der Welt die Ankunft erlebt, und die Verheißung an die Menschheit sich zu erfüllen beginnt. Die Begegnung von Elisabeth und Maria ist die Stelle in der Welt, an der die verborgene Gegenwart des Mensch gewordenen Gottes als erstes erkannt wird. Nicht von Elisabeth selbst, sondern von dem ungeborenen Kind, das in ihr jubelt und hüpft.
Vor einigen Jahren besuche ich Ein Karem. Es kommt mir vor, als stünde ich an der Stelle der Welt, an der die Erdplatten von Erwartung und Ankunft aufeinandertreffen. An der Stelle, an der die Verheißung an die Welt sich erfüllt, die Spannung sich löst und die Menschheit bebt.
Ich stelle mir vor, ich stünde dabei, als die beiden Frauen sich begegnen. Ich stehe dort mit Elisabeth. Sie vertritt mich und alle, die sich nach Gott sehnen, die ihn erwarten, und die die Stimme in sich tragen, die sagt: Bereitet dem Herrn den Weg.
Elisabeth trägt meine Erwartung in sich. Und ich bitte darum, dass ich ihre Freude in mir trage – dass ich erreicht werde von dem Beben des hüpfenden Kindes und von der verborgenen Nähe dessen, über den er jubelt.
Fra’ Georg Lengerke
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