Irgendwann mitten im Lockdown telefonierte ich mit einem aufgebrachten Bekannten. „Wenn Ihr Priester ins ‚Homeoffice‘ geht, dann ist das genauso, als wenn eine Krankenschwester oder ein Busfahrer sagen würden, sie arbeiteten jetzt von zuhause aus!“ Sofort wollte ich mich verteidigen. Aber ich wusste, dass daran etwas Wahres ist.
Die katholische Kirche gedenkt heute eines Seelsorgers, dem das Konzept ‚Homeoffice‘ für Seelsorger völlig fremd gewesen wäre: des heiligen Karl Borromäus, Erzbischof von Mailand. Sein Leben im 16. Jahrhundert besitzt für mich eine große Aktualität. Auch er lebte in einer Zeit des Umbruchs und der Erneuerung der Kirche. Zeitgenossen beschreiben ihn als betenden Menschen, als begnadeten Seelsorger und Organisator. Kraftvoll setzte er sich für die kirchlichen Reformen nach dem Konzil von Trient ein. Und er war Bischof in Zeiten einer Pandemie. In den Jahren 1576 bis 1578 wütete in Mailand die Pest. Mit gewaltiger Anstrengung setzte sich Karl Borromäus für eine umfassende gesundheitliche und seelsorgliche Versorgung ein. Diese Anstrengung ging so weit, dass er selbst schließlich an Entkräftung starb.
An seinem Gedenktag wird in der Kirche ein Text aus der Bibel gelesen, in dem Jesus von Nazareth davon spricht, wie er für die Menschen da ist. Dabei benutzt er das Bild vom „guten Hirten“ Der gute Hirt ist ein altes Symbol der idealen Sorge eines Königs für sein Volk. Doch im Verständnis Jesu ist die Herde nicht dazu da, dass der Hirte lebt. Sonders andersherum: Der Hirte ist dazu da, dass die Herde lebt. „Ich bin der gute Hirt. Ich gebe mein Leben für die Schafe,“ sagt Jesus (Johannes 10,11). Dem guten Hirten ist jedes einzelne ihm anvertraute Leben so kostbar, dass er dafür sein eigenes Leben riskiert und notfalls drangibt.
So, sagt Jesus, sorgt er und so sorgt Gott für den Menschen. Das ist nicht bloß ein schönes, unerreichbares Ideal. Wir leben täglich davon, dass unser Wohlergehen anderen Menschen so wichtig ist, dass sie um unseretwillen etwas riskieren. Angefangen bei Krankenschwestern und Rettungssanitätern, über Eltern für ihre kleinen Kinder oder Kinder für ihre alten Eltern, bis hin zu Menschen wie jenem Mann, der Anfang Juli zwei Kinder aus der Ostsee rettete und dabei selbst ertrunken ist.
Derzeit muss ich täglich an diejenigen denken, die für mich etwas riskieren. Von den vielen, die oft im Verborgenen der Gesellschaft einen nicht ungefährlichen Dienst tun, bis hin zu jenen, denen ich selbst viel zu verdanken habe – vielleicht sogar mein Leben.
Als Gegenbild zum „guten Hirten“ nennt Jesus in besagter Bibelstelle den „bezahlten Knecht“. Damit ist nicht einfach ein Angestellter gemeint, sondern ein „Mietling“, wie Martin Luther übersetzt. Ein Mietling vermietet sich für Geld. Und um das geht es dem Mietling vor allem: um den Erhalt seines eigenen Lebens. Er ist kein Hirt. Die Schafe sind ihm egal. Und wenn der Wolf kommt und es gefährlich wird, ist er weg.
Am Telefon mit dem wütenden Bekannten spüre ich, dass ich mich entscheiden muss:
Will ich zusammen mit dem guten Hirten aus dem Evangelium mein Leben für die Menschen einsetzen? Bin ich bereit, für meinen Nächsten in Not da zu sein, wenn ich merke, dass mehr auf dem Spiel steht als meine Gesundheit?
Oder kreise ich wie der Mietling so sehr um mich selbst und meinen Lebenserhalt, dass ich vor lauter Angst vor dem Tod schon aufgehört habe zu leben?
Der heilige Karl Borromäus starb erschöpft vom Dienst an den Menschen. Ich kann nicht beurteilen, ob er vielleicht er ein wenig besser hätte auf sich achten können. Aber er erinnert mich daran, dass meine Gesundheit nicht immer das höchste Gut ist. Am Ende kommt es auch darauf an, dass ich erkenne, wofür es sich lohnt, gesund zu bleiben oder vielleicht sogar meine Gesundheit zu riskieren.
Denn auch ich lebe, weil täglich jemand für mich sein Leben riskiert.