Kein Anlass zum Vorwurf 1 Kor 10,31-11,1

Schon in der frühen Kirche gab es Polarisierung. Ich weiß nicht, wie weit die der heutigen ähnelte zwischen denen, die sich auf die Tradition der Kirche, und denen, die sich auf die Lebenswirklichkeit der Menschen berufen.

Dennoch können wir von Paulus etwas über den Umgang mit Polarisierungen lernen.

Den Heiden sagt Paulus, sie sollen sich vom Götzendienst fernhalten. Den Juden sagt Paulus, sie sollten ihre neugewonnene Freiheit nicht vergötzen und über die Liebe zu ihren Geschwistern aus dem Heidentum stellen.

Für viele Heiden war auch noch nach ihrer Bekehrung der Verzehr von Fleisch, das bei Opfern für Götzen übrig geblieben war, ein Tabu. Für viele Juden galt das als skrupulöse Bedenkenträgerei.

Paulus empfiehlt der Gemeinde in Korinth keinem der beiden Seiten, „weder Juden noch Griechen“, Anlass zu einem Vorwurf zu geben.

Anders gesagt, sie sollten einen Sinn für das Anliegen beider Seiten haben: für die Sorge der einen, wieder in den Einflußbereich der Götzen zu kommen, und das Anliegen der anderen, nicht in ihrer Freiheit beschnitten zu werden.

Wo sind die Leute in der Kirche, die Verständnis haben für den jeweils wahren Kern der Anliegen der auf beiden Seiten Verschanzten, die einander des Untergangs der Kirche bezichtigen?

Für die liefert Paulus ein wichtiges Kriterium: „Ob ihr esst oder trinkt oder etwas anderes tut: Tut alles zur Verherrlichung Gottes!“ Darauf müssten sich diejenigen einigen können, die meinen, dass sie in der Mitte der Kirche stehen – dass es in allem zuerst um die größere Ehre Gottes geht.

Und die Ehre Gottes besteht darin, dass Gott zu den Menschen kommt und die Menschen zu Gott kommen.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Allen alles recht machen? 1 Kor 9, 16–19.22–23

„Allen bin ich alles geworden“ (1 Kor 9,22) schreibt Paulus nach Korinth. Entsprechend disponierte Leser könnten daraufhin meinen, sie müssten allen alles recht machen, durchgehen lassen oder sogar gutheißen und allen in allem zu Willen sein. So geht ihnen ihr inneres Helferlein fröhlich voran in die sichere Erschöpfungsdepression.

Zweierlei hilft mir heute, das Wort des Paulus besser zu verstehen:

Das eine ist der frühmorgendliche Abschied Jesu in die Einsamkeit des Gebets. Und das obwohl jeder in Kafarnaum etwas von ihm wollte und ihn zu brauchen meinte. „Alle suchen dich!“ (Mk 1,37) sagen ihm die nachsetzenden Jünger. Aber Jesus wird den Menschen nur dann gerecht, wenn er aus der betenden Vertrautheit mit dem Vater zu ihnen – und zur rechten Zeit auch weiter geht, auch wenn nicht alle Wünsche erfüllt sind.

Den anderen Hinweis finde ich in dem seltsamen Wort vom „Zwang“ des hl. Paulus, das Evangelium zu verkünden. Sein ganzes Leben muss ja von der grundstürzenden Kraft der spät gefundenen Gemeinschaft mit Christus durch und durch geprägt gewesen sein. So konnte er gar nicht anders, als schon mit seiner Lebensform, seiner Botschaft und seiner Weise, den Menschen zu begegnen, das Evangelium Christi zu verkünden.

„Allen alles werden“ heißt dann für mich, mich mit Christus für den Einzelnen vor mir so zu interessieren, als gäbe es nur ihn. Und zwar auch dann, wenn er mir religiös, gesellschaftlich oder politisch fremd ist. Es heißt, an seinem Leben Anteil zu nehmen, indem ich zu verstehen suche, woher er kommt und wie er so geworden ist, wie er ist. Es heißt schließlich, die Liebe Gottes zu ihm zu sehen, sie mitzuvollziehen – und ihn für diese Liebe zu gewinnen.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie