Amputiert in den Himmel Mk 9,38-43.45.47-48

Im Film The Mission(1986) legt sich der Brudermörder und Sklavenhändler Rodriguez Mendoza (Robert de Niro) eine schwere Buße auf. Er schließt sich den Jesuiten an und schleppt auf dem Weg in deren Niederlassungen sein ganzes altes Leben in Gestalt seiner Waffenrüstung in einem Bündel mit sich. Am oberen Lauf der Iguazu-Fälle angekommen schneiden ihn die Guarani, die er früher jagte, von seinem Ballast los, der krachend in die Tiefe fällt.

Dauernd müssen wir uns trennen. Zunächst von allem Nichtgewählten. Dann von Vergänglichem. Schließlich und eigentlich zuerst von dem, was uns „zum Bösen verführt“. Das kann eine zunächst angenehme aber auf Dauer schlechte Gewohnheit sein. Eine Art von Medienkonsum, der meine Kreativität oder geistige Beweglichkeit einschränkt oder meine affektive Liebesfähigkeit verdirbt. Es kann eine Beziehung sein, die meine Ehe oder meine Familie oder eine versprochene Treue gefährdet.

Und je mehr es scheint, diese Gewohnheit, dieser Konsum oder diese Beziehung gehöre zu uns wie Hand oder Fuß, Auge oder Ohr, umso tiefer scheint der Schnitt.

Jesus sagt, das Erreichen unseres Lebensziels sei wichtiger als unsere Unversehrtheit auf dem Lebensweg. Lieber humpelnd in den Himmel, als joggend in den Abgrund. Mir scheint, die meisten Menschen, denen es um die Liebe ging, haben nur versehrt ihr Ziel erreicht.

Rodriguez Mendoza fällt am Ende zurück. Als die Portugiesen die Jesuiten-Reduktionen überfallen, holt er Schwert und Rüstung aus dem Fluss und geht in einem Blutbad unter.

nur die beschnittene rose
blüht aus gesammelten kräften

nur die gestutzte rebe
wirft alles in die traube

schreibt Andreas Knapp in einem Gedicht (1) an jemanden, der wild wachsend / in alle Richtungen strebenwill. Und er schließt:

doch nur gebündelt kannst Du Dich entfalten
und schon im blühen fruchtbar sein

Fra‘ Georg Lengerke

(1) askese in: Brennender als Feuer. Geistliche Gedichte von Andreas Knapp, 5. Auflage, Echter Verlag 2010, S. 22.

Schott Tagesliturgie

Primus, Novize und Minister werden Mk 9,30-37

Es ist eine Verdrängung wie im Bilderbuch. Jesus spricht von seinem bevorstehenden Leiden, und die Jünger streiten sich, „wer von ihnen der Größte sei“. Was mag für sie „Größe“ gewesen sein? Begabter, bekehrter oder näher an Jesus zu sein als andere?

Es scheint, als ginge es Jesus just um das Gegenteil: Mach Dich klein. Stell dich hinten an. Sei nützlich. Dieses Missverständnis ließ Menschen wie Friedrich Nietzsche denken, das Christentum sei überhaupt nur eine einzige Kleinmacherei des Menschen und eine Idealisierung des Schwachen, Kranken und zu kurz Gekommenen.

Andere Übersetzungen können uns mitunter helfen, einen Text tiefer zu verstehen. Zum Beispiel die lateinische Vulgata, die auf einen Urtext des Hl. Hieronymus vom Ende des 4 Jh. zurückgeht.

Dort sagt Jesus, ein Jünger solle nicht maior, größer sein wollen als der andere. Aber jeder soll primus, Erster sein wollen, wenn es um das Mitgehen und Mitleben und Mitlieben mit Jesus geht. Und das geht nie auf Kosten anderer.

Wer so ein primus der Nähe Jesu sein will, der soll zugleich der Letzte sein. Aber in der Vulgata steht da nicht ultimus, der Entfernteste, Äußerste oder Hinterste, sondern novissimus, der Neueste, der Anfänger, der Lernende – wie ein Novize im Kloster.

Und ein solcher primusist jemand dann, wenn er zum Dienerwird. Doch statt des lateinischen Wortes servussagt Jesus in der Vulgata, die Jünger sollten minister sein. Damit ist nicht ein Politiker oder oberster Beamter gemeint, sondern einer, der die Lebensgüter für andere besorgt, verwahrt und verteilt und ihnen so dient – wie der „PaterMinister“ in einer Jesuitenkommunität.

Wer die größte Nähe Jesu sucht, ein Neuling im Lernen Seines Lebens bleibt und das, was er hat, für die Anderen hat,
der kann sich auch der wirklichen Welt stellen, in der die Liebe leidet und siegt.

Fra‘ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Gott und das viele Leid Mk 8,27-35

Auch die Volontäre hier im Libanon fragen dieser Tage, wie das ist mit Gott und dem Leid. Ich kenne viele falsche, dumme, grausame oder unangemessene Antworten. Und ich selbst weiß keine endgültige Antwort. Ich hoffe sie zu hören, wenn ich vor Gott stehe.

Aber einige vorläufige Antworten gibt es doch:

Es gibt verschuldetes Leiden. Selbst- oder fremdverschuldet. Jedes Laster, jede Sünde verursacht Leid – von der Ungerechtigkeit über die Bosheit bis zur Dummheit; für Einzelne, Gruppen oder Regionen; körperliches oder seelisches Leiden. Wir fragen, wie Gott das zulassen kann. Und Gott fragt zurück: How dare you?

Es gibt unverschuldetes Leiden an und mit der Schöpfung. Ihre Geschichte ist nicht einfach festgelegt wie ein Uhrwerk. Sie ist vielmehr endlich und also vergänglich und (aus unserer Sicht) störanfällig. Das Klima ändert sich, Erdplatten verschieben sich, die einen Zellen lassen andere Zellen sterben. Vor allem sind auch unsere neuronalen Prozesse nicht einfach determiniert, sonst gäbe es keinen Geist und keine Freiheit, keine Liebe und keine Wahrnehmung von Sinn.

Und schließlich gibt es übernommenes Leiden. Wer liebt, kann einen anderen „gut leiden“. Er trägt sein Leiden mit, erträgt ihn, hält bei ihm aus. Gott ist der Liebende schlechthin. Er schaut dem Spiel der Kräfte und dem Schauspiel missbrauchter Freiheit nicht einfach zu. Gott geht ins Leiden. Deshalb „muss der Menschensohn viel leiden“. Nicht weil Gott das so will, sondern weil der Mensch das so wollte und weil die Liebe sich dem Hass nicht entziehen kann, wenn es Erlösung geben soll.

Petrus hat recht. Die Liebe stellt sich dem Geliebten in den Weg, der ins Leid geht. Aber der Liebende darf sich der Liebe nicht in den Weg stellen, die ins Leiden geht. Geh hinter mich, sagt Jesus, geh mit mir, wenn Du sehen und mitwirken willst, wie die Liebe die leidende Welt erlöst.

Fra‘ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Öffnung im Abseits Mk 7,31-37

Abseits der Öffentlichkeit heilt Jesus einen Taubstummen. Auch wir sind hier abseits der Weltöffentlichkeit etwas außerhalb von Faraya, einem Skiort in Libanongebirge nordöstlich von Beirut. Die vielen schwerst-mehrfach behinderten Gäste, die hier in einem Malteserhaus von jungen Leuten aus Deutschland und dem Libanon eins zu eins betreut werden, geben viele Geräusche von sich. Laute und leise. Frohe und traurige. Solche, deren Bedeutung erratbar ist, und solche, die scheinbar keine haben. Manche sagen gar nichts, einige sind taub.

„Effata“, sagt Jesus, als er die Ohren und den Mund des Taubstummen berührt: „Öffne dich!“. Ich habe dieses fremde Wort zum ersten Mal im Alter von 12 Tagen gehört. Das war bei meiner Taufe. Allen Getauften wird das gesagt: „Öffne Dich!“ und dabei werden unsere Ohren und unser Mund berührt, damit wir – so sagt das Formular der Taufe – das Wort Gottes hören und es verkünden.

Ich frage mich, ob Jesus hier unseren Gästen die Ohren und den Mund öffnen will. Kann schon sein. Aber was ist denn erst einmal mit uns, denen in der Taufe die Ohren und der Mund schon geöffnet wurden? Eine solche Gabe muss doch angenommen und geübt werden, um wirksam ausgeübt werden zu können. Warum also höre ich so wenig von Gott? Und warum bekommen Menschen von mir so wenig von Gott zu hören?

Hier draußen – abseits der Weltöffentlichkeit und angesichts der Not unserer Gäste und dieses Landes – fangen wir an von Gott zu sprechen. Von der Liebe und dem Vertrauen der Menschen zu ihm in diesem blutenden Land. Von seiner Liebe zu uns Menschen, die in den Schmerz geht. Und davon, dass er Mitliebende sucht – besonders zu den Kleinsten und Schwächsten und Gefährdetsten. Heute in der Messe habe ich vor lauter Rufen der Gäste fast mein eigenes Wort nicht gehört.

Vielleicht redet es sich leichter von Gott unter Menschen, die ihren Rufen ungeniert freien Lauf lassen.

Fra‘ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie