Du stirbst meinen Tod: Was der Karfreitag unserer Sterblichkeit sagt

Der Münchner Hauptbahnhof an einem sonnigen Märztag. Wieder kommen in Zügen Flüchtlinge aus der Ukraine an. Ältere Menschen, viele Frauen und Kinder. Etliche mit so wenig Gepäck, dass ich mich schaudernd frage, unter welchen Umständen sie wohl ihre Heimat verlassen haben.

Je mehr Nachrichten und Bilder uns erreichen, umso drängender stellt sich die Frage, wie wir mit einer solchen Flut umgehen. Es ist legitim und notwendig zu entscheiden, was ich an mich heranlasse und was nicht; wie viel Raum und Macht ich welchen Bildern und welchen Bildermachern gebe. Wir können nicht jede Not anschauen, die uns gezeigt wird. Wenn wir die eine anschauen, müssen wir von einer anderen absehen. Nicht alle Not auf der Welt kann uns angehen. Wir sind nicht Gott. Uns geht die Not an, die uns ändern soll oder die wir ändern können.

Das war auch am Anfang des Krieges so. Mittlerweile aber ist die Not, die wir zuerst nur aus den Nachrichten kannten, längst zu uns gekommen. Und je näher uns die Not von Menschen kommt, umso weniger dürfen wir wegsehen. Ich werde nicht allen Menschen helfen können. Aber ob und wie ich für einen Menschen da sein kann, werde ich erst merken, wenn ich ihn ansehe.

Heute ist Karfreitag. Auch der handelt vom Ansehen der Not. Vor 14 Tagen wurden in den katholischen Kirchen die Kreuze verhüllt. Das ist jedes Jahr ein ungewohnter Anblick. Eine Entwöhnung. Wir sollen uns an das Bild des zu Tode gefolterten Mannes nicht gewöhnen, den die Christen als „wahrer Gott und wahrer Mensch“ verehren.

Heute Nachmittag begeht die Kirche die sogenannte „Feier vom Leiden und Sterben Christi“. In diesem Gottesdienst wird an die Passion Jesu erinnert. Dabei wird das Kreuz wieder feierlich enthüllt. Es ist eine Art Sehschule. Wir sollen wieder sehen lernen, was wir übersehen, woran wir uns gewöhnt oder was wir verdrängt haben.

Während des katholischen Karfreitagsgottesdienstes wird der Gemeinde dreimal zugerufen, nicht länger wegzusehen: Ecce! Lautet der lateinische Ruf. Das heißt so viel wie: Da! Sieh hin! Gib acht!

Der bekannteste dieser drei Weckrufe steht im Evangelium nach Johannes: Ecce homo! – Siehe, der Mensch!“ Dieses Wort hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Es gibt eine ganzes Genre von Bildern mit diesem Titel. Napoleon wird das Wort in den Mund gelegt als er 1808 Goethe begegnet. Friedrich Nietzsche hat eine biografische Schrift gleichen Namens verfasst. Und Hilde Domin hat uns ein Gedicht hinterlassen, das mit diesem Wort überschrieben ist.

Es stammt vom römischen Statthalter in Jerusalem, Pontius Pilatus. Bei ihm wird Jesus wegen Gotteslästerung und Aufwiegelung angeklagt. Während des Verfahrens wird Jesus gegeißelt und als Witzkönig verkleidet und verspottet. Mit einer Krone aus Dornen, einem Rohrstock als Zepter und einem alten Soldatenmantel um die Schultern. Als er so vor das Volk geführt wird, sagt Pontius Pilatus: Ecce Homo! Siehe, der Mensch!

Vielleicht hat der Statthalter Roms nur auf diesen einen Menschen zeigen wollen. Als wolle er sagen: „Schaut euch diesen Menschen an!“ Aber dabei hat er zugleich noch mehr gesagt. Er zeigt auf Jesus und damit auf den Menschen schlechthin: Seht hin! Das ist der Mensch! So ist der Mensch! So geht der Mensch mit dem Menschen um. Damit steht das Wort des Pilatus aber nicht nur über dieser Szene, sondern über der ganzen Leidensgeschichte Jesu. Ja, über seinem ganzen Leben.

Was sehen die Menschen, wenn sie dem Weckruf und Fingerzeig des Pilatus folgen? Sie sehen einen leidenden Menschen. Ein Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit. Die Leidensgeschichte Jesu zeigt uns den leidenden Menschen schlechthin: belogen und betrogen, verkannt und verneint, verfolgt und gefangen, geschlagen und gequält. Sei er unschuldig oder schuldig. So, sagt uns der Weckruf des Pontius Pilatus, geht ihr miteinander um – und mit Euch selbst.

Die Gestalt Jesu, auf die Pilatus zeigt, kann dem Betrachter auch seinen eigenen inneren Zustand offenbaren. Wer auf Jesus schaut, sieht sich selbst. Wie im Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde. Äußerlich bleibt der Londoner Lebemann Dorian Gray das blühende junge Leben. Doch in einem magischen Gemälde sieht er mit wachsendem Entsetzen seinen inneren, immer mehr entstellten inneren Menschen.

Wer dem Fingerzeig des Pontius Pilatus folgt, sieht schließlich den entwürdigten Menschen. Den nackt vor die gaffenden Blicke der Masse gezerrten, ganz und gar ausgelieferten Menschen.

Eine besondere Bedeutung liegt dabei in der grausamen Verkleidung Jesu als König. In der Bibel ist der König ist ja nicht nur eine politische Figur. Der König ist ein Bild des ganz freien Menschen. Der König hat seinen Wert nicht von der Wertung der Menschen. Vielmehr hat er seine Würde, die aller Wertung enthoben ist, von Gott. Der wirklich freie Mensch verantwortet sich im Letzten nicht vor Menschen, sondern vor Gott, der das letzte Wort über sein Leben hat.

Hier nun wird uns die Karikatur eines solchen Königs vorgestellt. Einer, der angeklagt ist, sich selbst zum König über andere gemacht zu haben. Einer, dem seine königliche Würde genommen werden soll durch alle Arten von Schimpf und Schande, durch Entblößung und Beschämung, Verleumdung und Verunglimpfung.

Der zweite Weckruf im Karfreitagsgottesdienst steht in der Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja. Die Lesung beginnt mit dem Ruf: „Siehe, mein Knecht!“ (Jesaja 52,13) Und dann folgt die Beschreibung eines Mannes, der auf besondere Weise mit Gott verbunden ist. Er wird von den Menschen gequält, entstellt und schließlich auf grausame Weise getötet. Allerdings bleibt dieser Knecht nicht im Tod, sondern wird – zum Staunen der Welt – von Gott wieder ins Leben geholt.

Zur Zeit Jesu war dieser Text schon gut 500 Jahre alt. Die Zeitgenossen Jesu kannten ihn gut. Und nach dem Tod und der Auferstehung Jesu kam es vielen von ihnen so vor, als hätten sie ein Déjà-vu, als hätten sie das Leiden Jesu schon mal irgendwo beschrieben gesehen. Sie erinnerten sich an diesen Text, das sogenannte „Lied vom leidenden Gottesknecht“.

Ich wehrte mich nicht / und wich nicht zurück. Ich hielt meinen Rücken denen hin, / die mich schlugen, und meine Wange denen, / die mir den Bart ausrissen. Mein Gesicht verbarg ich nicht / vor Schmähungen und Speichel. (Jes 50,5+6)

Mit Jesus war genau das geschehen, was Jesaja gut 500 Jahre zuvor beschrieben hatte. Der angekündigte „leidende Gottesknecht“, so waren die ersten Christen überzeugt, war Jesus selbst.

Und so haben die Jünger Jesu auch die Deutung des Leidens und Sterbens des „Gottesknechtes“ im Buch des Propheten Jesaja auf das Leiden und Sterben Jesu bezogen.
Denn der Gottesknecht ist mit den Leidenden der Welt nicht bloß solidarisch. Vielmehr verbindet er sich in seinem Leiden mit den anderen Menschen in ihrem Leiden. Er geht so an ihre Stelle, dass der Prophet Jesaja schreiben kann: „Er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“. Genau das, sagen ein halbes Jahrtausend nach Jesaja die Zeitzeugen, tut Jesus: Er verbindet sich mit den Menschen auf eine Weise, dass er die Leiden der Menschen wirklich zu seinen Leiden macht.

Ich bin öfters Müttern schwerstkranker oder sterbender Kinder begegnet. Einige von ihnen haben an irgendeinem Punkt gefragt, ob sie nicht an der Stelle ihres Kindes dessen Krankheit und dessen Schmerz tragen könnten. Das mag unvernünftig klingen. Aber die Liebe sagt und will das wirklich. Und die vollkommene Liebe Gottes tut das im Leben Jesu auch. Er verbindet sich mit dem Leben, dem Leiden und dem Sterben eines jeden Menschen – so dass nach seinem Leiden keiner mehr ohne ihn leidet und nach seinem Sterben keiner mehr ohne ihn stirbt.

Das ist gemeint, wenn wir im Alltag von Empathie sprechen. Empathie heißt, dass einer sich „in einen anderen Menschen hineinversetzt“, in seine Sicht, sein Empfinden, seinen Schmerz. Wir Menschen können das nur im übertragenen Sinn. Als Gott der Sohn in Jesus von Nazareth ein Mensch wird, tut er das im wörtlichen Sinn: Er versetzt sich in uns hinein, er lebt, empfindet, liebt und leidet mit uns Menschen.

Deshalb spricht die christliche Spiritualität von „Christus im Nächsten“ oder von „Christus im Armen“. Der, der unser Leben zu seinem Leben, unser Leiden zu seinem Leiden, und unser Sterben zu seinem Sterben macht, der ist da, wo der lebende, leidende, sterbende Mensch ist. Und das gilt bis in die größten denkbaren Abgründe und in die größte Entfernung von Gott – sei sie empfunden oder gewählt.

Das hat Folgen für unser Menschenbild. Mein Nächster ist nicht mehr einfach nur mein Nachbar, mein Verwandter oder ein Fremder. Für „den Menschen“ neben Pontius Pilatus, für den „Gottesknecht“ des Propheten Jesaja und für Gott selbst ist mein Nächster der um alles in der Welt geliebte Mensch. Er ist aus der Perspektive der Christen die Schwester oder der Bruder, für die oder den Jesus gestorben ist. Und was immer wir dem leidenden, bedürftigen und angewiesenen Menschen tun, das haben wir Ihm getan.

Das dritte „Siehe!“, der dritte Weckruf im Karfreitagsgottesdienst der Kirche gehört zum Ritus der Enthüllung des Kreuzes. Nachdem die Passion Jesu gelesen wurde, werden nun nacheinander erst die beiden Arme, dann der Rumpf und die Beine des bis dahin verhüllten Gekreuzigten enthüllt. Dabei wird dreimal gesungen: „Ecce lignum crucis…!“ „Siehe, das Holz des Kreuzes…“

Heute gibt es wieder mehr Leute, die am Kreuz und am Gekreuzigten Anstoß nehmen. Das ist ein gutes Zeichen. Denn der Anblick ist ja eigentlich wirklich unerträglich. Vor vielen Jahren war einer meiner Neffen als Dreijähriger auf einer Reise in einem Gästezimmer untergebracht. Über seinem Bett hing ein ziemlich „explizites“ Erwachsenenkruzifix. Als meine Schwester mit ihm gebetet, gute Nacht gesagt hatte und gehen wollte, fing der Junge an zu weinen und sagte: „Mami, ich will den Mann nicht sehen!“

Recht hat er. Es gibt Anblicke, die unerträglich sind. Genau das sagt auch der Prophet Jesaja über den Gottesknecht.

„Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. […] Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.“

Dennoch wird am Karfreitag gesagt, dass die Menschen wieder hinschauen sollen, wo sie weggesehen haben, dass sie sich erschüttern lassen sollen, wo sie sich gewöhnt haben, und dass sie die Botschaft vom Kreuz hören und tiefer verstehen lernen können, wo ihnen das Kreuz nichts mehr sagt.

Aber warum sollen wir uns das antun? Warum zeigt man uns wieder und wieder die Darstellung eines Mannes, der vor 2000 Jahren auf die denkbar grausamste Weise zu Tode gequält und hingerichtet wurde?

Ein Grund wird schon in dem Ruf bei der Kreuzenthüllung genannt: „Seht, das Holz des Kreuzes“, heißt es da, „an dem das Heil der Welt gehangen. Kommt, lasst uns anbeten.“ Jetzt geht es nicht mehr allein um die Person Jesu, um die Person des Gottesknechtes. Es geht um einen Ort und ein Zeichen. Das Kreuz ist der Ort der Verlorenheit des Menschen schlechthin. Der Ort von Hass und Verwerfung, der Ort der äußersten denkbaren Gottesferne und Verlorenheit. Das Kreuz steht für alle Orte, an denen die Menschheit wie Jesus am Kreuz schreit: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Psalm 22,2)
Von diesem Ort wird gesagt, dass „das Heil der Welt“ dorthin gegangen ist. Nicht als umjubelter Held, nicht als überwältigende Macht. Sondern als einer, der in allem so geworden ist wie wir. – Nur, dass er auch in all dem Hass der Welt mit Gott auf das Innigste verbunden blieb.

Mir hat mal ein Begleiter in einer nicht einfachen Lebensphase gesagt, ich solle mich unter das Kreuz setzen und mir vorstellen, wie es wäre, sich vom Gekreuzigten anschauen zu lassen. Von dem, der die Menschen auch am Kreuz noch liebt, nachdem aller Hass der Welt sich an ihm ausgetobt hat. Das mache ich seitdem immer wieder und empfehle es auch anderen. Der, der mich da anschaut, kennt mich. Er lässt sich antun, was wir einander antun. Und immer noch bleibt er uns gut. Diese kleine Übung hilft mir zu verstehen, dass die durchgehaltene Liebe am Kreuz die Welt rettet. Die Welt wird zuerst von innen gerettet, nicht von außen. Sie wird zuerst durch Gottes Anteilnahme an unserem Leben und durch Anteilgabe an seinem Leben gerettet, nicht durch siegreiche Überwindung.

Wenn ich auf das Kreuz schaue, dann sehe ich, was ich nicht sehen will und wieder sehen lernen soll; was ich verdrängt habe und was sich nicht verdrängen lässt. Ich sehe die Stelle, an der Gott in Jesus in meine Einsamkeit und Traurigkeit, und in meine Gottferne kommt und sie zu seiner macht. Ich sehe das eine Kreuz und die vielen Kreuze der Menschen – und erkenne die Stelle, an der Gott als Mensch die Verlorenen sucht und findet, um sie nach Hause ins Leben zu bringen.

Am Karfreitag 2017 saß ich in einer Kapelle in einem Haus der Jesuiten in Wien. Mit dem Osterfest sollten für mich die sogenannten „Großen Exerzitien“ zu Ende gehen; Für mich standen diese 30 Tage unter besonderen Vorzeichen. Ich hatte mich Anfang des Jahres einer Krebsoperation unterzogen. Jetzt, 90 Tage später, war, wie es aussah, alles gut gegangen, und ich war einstweilen gerettet und geheilt.

Aber der Schrecken des möglichen nahen Todes saß und sitzt mir noch immer in den Knochen. Bis heute hat diese Erfahrung mein Verhältnis zum Leben und zum Tod zutiefst geprägt: zum schon Erlebten und zum noch Verbleibenden, zum Dank und zur Hoffnung, zu Gott und zu meinen Nächsten.

Der Jesuitenpater, der mich in den Exerzitien begleitete, hatte mir am Ende der Karfreitagsliturgie die Aufgabe gestellt, in die Stille zu gehen und mich zu fragen, was ich dem Gekreuzigten sagen wollen oder was der Gekreuzigte mir sagt. Ich saß allein in der Kapelle. In der Karfreitagsliturgie war alles nochmal auf den Punkt gekommen, was ich in den vergangenen Monaten erlebt und durchlitten, erfragt und durchbetet hatte. Siehe, der Mensch! Siehe, mein Knecht! Siehe, das Holz des Kreuzes!

Und mit einem Mal kam mir ein Wort im Blick auf den gekreuzigten Jesus in den Sinn:
„Du stirbst meinen Tod.“

Gott hat mein Sterben zu seinem Sterben und meinen Tod zu seinem Tod gemacht hat. Und wenn die Liebe Gottes das wirklich für uns Menschen tut, dann verliert der Tod seine Macht, weil die Liebe Gottes und wir mit ihr unsterblich sind.

Am Münchener Bahnhof muss ich daran wieder denken. Gott hat Eurer Leben zu seinem Leben und Euer Sterben zu seinem Sterben gemacht. Weil er für uns da ist, können wir mit ihm füreinander da sein. Und weil er Gott ist, ist er auch dort noch für uns da, wo wir nichts mehr füreinander tun können, als den Mann am Kreuz in unser Leben einzulassen, damit er tun kann, was nur die unsterbliche Liebe für uns sterbliche Menschen tun kann.

(Diese Folge wurde am 15. April 2022 im Deutschlandfunk ausgestrahlt: https://www.xn--katholische-hrfunkarbeit-xoc.de/?id=4019)

Schott Tagesliturgie