Tote in Tüten. Das waren mit die verstörendsten Bilder vom Krieg in der Ukraine. In Mariupol legen Menschen in Plastik gewickelte Leichen in einen Graben zwischen Häuserzeilen. Der Graben ist nicht sehr tief. Er wird bestenfalls notdürftig zugeschüttet. Aus Hinterhöfen werden Friedhöfe. Oder eher Unfriedhöfe, über die sich eine Grabesunruhe gelegt hat.
Denn es ist schwer vorstellbar, dass die zu Tode Gequälten, die Ermordeten, die Verratenen oder im Stich Gelassenen einfach so „in Frieden ruhen“. Oder dass sich Gewalttätige und Folterer, Mörder und Schlächter einfach lächelnd davon machen in ein „Ruhe im Frieden“.Kann es denn sein, dass in all deren Leben die Bosheit oder das zynische Recht des Stärkeren einfach so folgenlos das letzte Wort haben?
Der heutige Karsamstag ist für Christen der Tag der Grabesruhe Jesu. Gestern, am Karfreitag, hat die Kirche sich an das Leiden und Sterben Jesu Christi erinnert. Er wird unschuldig verurteilt, gefoltert und halb totgeschlagen und am Ende vor den Toren Jerusalems an einen Holzpfahl genagelt bis er stirbt. Eilig wird er von Freunden in das Grab eines Anderen gelegt.
Heute, am Karsamstag, breitet sich in den Kirchen ein großes Schweigen aus. Es finden nur einzelne Gebetszeiten oder Wachen an Darstellungen des Grabes Christi statt. Es ist, als würden sich die Christen weltweit mit den Weinenden auf den Unfriedhöfen von Mariupol und Charkiw und all den stillen Schreckensorten in der Welt verbinden, wo Menschen an den Gräbern ihrer notdürftig verscharrten Lieben trauern.
Es ist nicht so einfach, diese unfriedliche und eigentlich unabsehbare Todesstille auszuhalten. Vor allem dort, wo kein Grund zur Hoffnung mehr erkennbar ist. Vielleicht ist das der Grund, warum in der katholischen Kirche die ursprünglich nächtliche Auferstehungsfeier bis in die 1950er Jahre immer mehr in den Karsamstag hineingewandert war.
Dabei ist für Christen dieser Tag mehr als bloß ein Tag der Grabesruhe. Es ist der Tag, von dem es im christlichen Glaubensbekenntnis heißt, Jesus Christus sei „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Was heißt das? Christen glauben, dass in Jesus Christus sich Gott als Mensch geoffenbart hat. Wenn jemand fragt: Wie ist Gott? Dann zeigen Christen auf Jesus von Nazareth und sagen: „So!“ Aber damit meinen sie nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern eine Identität: Jesus ist Gott der Sohn. In diesem Einen verbinden sich das göttliche und das menschliche Wesen – ohne getrennt und ohne vermischt zu sein.
Im Leiden und Sterben Jesu geschieht etwas Erstaunliches: Jesus erlebt und teilt alle Angst und Verzweiflung, alle empfundene Gottesferne und Verzweiflung, die Menschen kennen. Bis dahin, wo der Mensch schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,2) Zugleich lässt er sich nicht zum Hass bewegen. Er hält die liebende Verbundenheit mit Gott dem Vater durch – bis in die Trennung vom Leben, bis in das „Reich des Todes“.
In den griechischen Mythen versuchen Helden in das Reich des Todes zu gelangen, um ihre Lieben zu retten. Christen behaupten, dass der Mythos im historischen Sterben und Tod Jesu wahr wird. Aber nicht durch Kampf oder listige Prüfung wie bei Achilles oder Orpheus. Sondern indem er den Tod der Ermordeten von Charkiw und Mariupol stirbt und so in das Gefängnis der irdisch Erloschenen einsteigt, aus dem es für uns allein keinen Ausweg gibt.
Mariupol heißt „Marias Stadt“. Maria, die Mutter Jesu, ist die nächste am Kreuz und am Grab. Eine andere Maria (aus Magdala) ist die erste am leeren Grab, am aufgebrochenen Gefängnis des Todes. Überall, wo wir an Gräbern stehen, ist Mariupol, Marias Stadt. Und in der Stadt Mariens wird es einmal sein, dass wir erkennen und feiern dürfen: Einer, der eine unsterbliche Liebe zu uns hat, wird zusammen mit uns das Gefängnis verlassen – und mit denen, die tot in Tüten waren.
Dieser Artikel erschien am 16. April 2022 unter https://www.dw.com/de/grabesunruhe-in-marias-stadt/a-61394544