Zeigt her eure Füße (Morgenandacht DLF vom 6. April 2023, Gründonnerstag)

Heute ist der Gründonnerstag. Die Kirche gedenkt heute des letzten Abendmahls, das Jesus vor seiner Kreuzigung mit den Jüngern feierte. Während dieses Abendmahls kommt es zu einer weiteren Begebenheit von großer Intensität: Jesus steht auf und wäscht seinen Jüngern einzeln die Füße.

Diese Szene wird häufig bloß auf ihre moralische Botschaft reduziert: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“, sagt Jesus danach. Aber damit wird das Entscheidende vergessen: Bevor die Jünger einander die Füße waschen, sollen sie sich die Füße waschen lassen. Und das löst erheblichen Widerstand aus: „Niemals sollst du mir die Füße waschen!“, widerspricht Petrus dem Ansinnen Jesu.

Es geht in dieser Szene um mehr, als nur um eine Lehrstunde in Nächstenliebe. „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“, erwidert Jesus dem widerwilligen Petrus. Hier geht es um den Kern des Christseins. Der besteht nämlich nicht in der Verwirklichung bestimmter Werte. – Die meisten sogenannten „christlichen Werte“ wie die Nächstenliebe sind gar nicht spezifisch christlich, sondern allgemein anerkannt. – Nein, wer die Zuwendung Jesu annimmt, bekommt Anteil am Leben Jesu. An seiner Weise zu leben und zu lieben, an seiner Weise, die Menschen zu sehen, von ihnen zu denken und zu ihnen zu sprechen, an seiner Weise, mit Gott und mit der Welt verbunden zu sein. Wie kann man sich das vorstellen? Ein Neffe von mir hat kürzlich eine Erfahrung gemacht, von der ich glaube, dass Sie eine Antwort auf diese Frage geben kann.

Nach einem freiwilligen sozialen Jahr im Nahen Osten hat er zwischen Frühjahr und Herbst nur ausnahmsweise Schuhe getragen. In Wärme und Kälte, drinnen und draußen, tags und nachts, wandernd und ruhend, in der Regel war der junge Mann – barfuß.

Ich habe ihn nach den Gründen gefragt. Drei hat er mir genannt:

Der erste war, dass die jungen Leute während dieses Jahres Grenzen austesten und sie gegebenenfalls überwinden wollten. Zum Teil waren es Albernheiten, wie: Wie viele Brotfladen passen in einen Mund? Wie oft muss man die Wäsche wechseln, bevor die Freunde Anstoß nehmen? Wie ist es, einen Tag lang nichts zu sehen oder nichts zu hören? Wie lebt es sich ohne Haare auf dem Kopf? Oder eben: Wie weit kommt man ohne Schuhe? Irgendwann wurde die Wäsche dann wieder regelmäßig gewechselt, die Haare sind bald wieder nachgewachsen – nur die Füße blieben nackt.

Der zweite Grund hatte mit dem Gefühl von Freiheit und einer neuen Wahrnehmung der Umgebung zu tun. Er schrieb mir:

„Es hatte was von dem Freiheitsgefühl eines Kindes, das sich wehrt, wenn die Mutter ihm die Schuhe anzieht. Einfach so, ohne überflüssiges Gepäck und weniger verpackt rauszustreunen. Und dazu kommt die ‚tastende Freude‘, die mir meine Barfüße bereiten. Sie eröffnen mir eine kleine Sinneswelt, die einem mit Schuhen ganz verschlossen bleibt.“

Beim dritten Grund schließlich wird er etwas verlegen und schreibt mir, er habe eine Ahnung, ja eine Sehnsucht, dass durch eine bewusster gelebte Armut die Wege für die wertvolle Erfahrung des Beschenkt-Werdens wieder freier würden. Eine Erfahrung, die ihm in der üblichen Weise, für sich selbst zu sorgen und sich selbst zu bedienen, einfach fehlten.

Als Jesus den Jüngern die Füße wäscht, will er ihnen ein Beispiel geben. Aber zuvor schenkt er ihnen die Erfahrung, dass er für sie da ist als einer, der dient. Das sollen sie sich buchstäblich gefallen lassen, indem er ihre Füße in die Hände nimmt und sie wäscht. Und mit den Füßen seiner Jünger reinigt Jesus auch ihren Zugang zur Welt, ihre Wahrnehmung der Schöpfung und ihre Empfänglichkeit für das, was Gott ihnen schenken will – in der Welt und über die Welt hinaus.

Fra Georg Lengerke

In der Haut des Judas (Morgenandacht DLF vom 5. April 2023)

Pieter Pourbus, Das letzte Abendmahl, Brügge 1562

Letzten Herbst stand ich im Groeningen-Museum in Brügge vor dem Letzten Abendmahl des Malers Pieter Pourbus aus dem Jahr 1562. Man sieht Jesus, der mit der rechten Hand das Stück Brot in der linken segnet. Um den Tisch sitzen die Jünger. Jesus gegenüber, mit dem Rücken zum Betrachter, sitzt Judas, der Jesus verraten wird. Erkennbar an dem Beutel mit Geld in der Hand.

Es scheint, als wolle er gerade aufstehen. Der linke Fuß ist leicht hinter den Hocker gestellt – und dieser Fuß stellt mich vor ein Rätsel: Zwischen dem Knöchel und den Zehen klafft seitlich eine Lücke in der Haut. Darunter ist eine zweite Hautschicht zu sehen. Die obere Hautschicht wird – wie ein Wanderschuh – mit einem Band an Ösen zusammengehalten.

Es scheint, als habe Pourbus Judas als einen Mann darstellen wollen, der in der Haut eines anderen steckt. Aber was soll das heißen? Ist das der Verräter im Freund oder der Freund im Verräter? Der Wolf im Schafspelz oder das Schaf im Wolfspelz?

Judas ist ja beides: am Anfang der von Jesus zu seinem Apostel Berufene und Bevollmächtigte – und am Ende der, der Jesus für 30 Silberlinge an den Hohen Rat verrät.

Ich stehe vor dem Bild und denke an diese beiden Möglichkeiten:

Vielleicht hat Pourbus Judas als den Wolf im Schafspelz darstellen wollen. Es gibt im Johannesevangelium der Bibel ein dunkles Wort über den Entscheidungspunkt des Judas. Da heißt es: Als Judas beim Abendmahl aus der Hand Jesu ein Stück Brot nimmt, „fuhr der Satan in ihn“ (Joh 13,27). Dieser Satz hat mit dazu geführt, Judas einfachhin als Inkarnation des Bösen darzustellen. Ist es also der Fuß des bösen Feindes, der unter der Haut des Judas hervorlugt? War Judas nur noch die Hülle des Satans, der von ihm Besitz ergriffen hatte?

Ich glaube, damit macht man es sich zu einfach. Judas war nicht einfach zum Bösen verdammt. So etwas tut die Liebe Gottes nicht. Ungeachtet seiner Schwächen war er ja doch einer der Zwölf von Jesus Auserwählten. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem etwas Gegensätzliches zu der Freundschaft mit Jesus in Judas immer mächtiger wurde: War es nur Gier? War es Rache für die enttäuschte Hoffnung auf eine politisch Revolution? Wollte er Jesus so zu einem Wunder und einer Selbstoffenbarung als Messias zwingen? Viel wurde darüber spekuliert. Wir wissen es nicht.

Die zweite Möglichkeit ist, dass uns das Bild den Judas in der Haut eines anderen, also das Schaf im Wolfspelz zeigt.

Mich erinnert das an eine Erzählung in den Chroniken von Narnia von C. S. Lewis: Ein Junge namens Eustachius Knilch will einem Drachen dessen Schatz stehlen. Je mehr er von dieser Idee besessen ist, umso mehr verwandelt er selbst sich in diesen Drachen. In der Gestalt und Haut des Drachen begegnet er seinen Freunden wieder. Sie helfen ihm, zu erkennen, wozu er geworden ist. Das weckt seine Sehnsucht, wieder der zu werden, der er von Gott her eigentlich ist. Es beginnt der Prozess einer mehrfachen Häutung. Bei der Begegnung mit dem Löwen Aslan wird er schließlich durch einen tiefen schmerzhaften Schnitt aus den Resten der Drachenhaut befreit und bekommt seine wahre Lebensgestalt zurück.

Vielleicht ist es das: Auf dem Bild schaut am Fuß noch ein wenig die Lebensgestalt des ursprünglichen Judas Iskariot hervor, den Jesus erkannt und erwählt, berufen und geliebt hat.

Das Evangelium weiß nichts von einer weiteren Begegnung zwischen Judas und Jesus. Judas verzweifelt und erhängt sich. Aber der Maler Pourbus mag uns sagen, dass wir nicht aufhören sollen, für Judas zu hoffen. Und für uns selbst. Dass es noch während unseres Lebens zu jener Häutung kommt, bei der wir aufhören, andere zu sein, als wir für Gott eigentlich sind, und wieder anfangen, nach jenem Anfang zu fragen, der auch bei Judas die Erwählung eines geliebten Freundes war.

Fra’ Georg Lengerke

Pieter Pourbus, Das letzte Abendmahl, Brügge 1562, Detail: Fuß des Judas

Und wenn alle – ich nicht? (Morgenandacht DLF vom 4. April 2023)

„Et si omnes ego non“. So steht es in weißen Buchstaben auf dem roten Fachwerk eines Hauses in Kreuzberg an der Ahr. „Und wenn alle – ich nicht.“ Das war das Lebensmotto von Philipp von Boeselager (1917-2008), der dort seine letzten Lebensjahre verbrachte. Er war an der Vorbereitung des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt. Er wurde nicht entdeckt und überlebte. „Und wenn alle – ich nicht“, das war eine Entscheidung zum Widerstand gegen die Masse und den Mainstream, gegen das Allgemeine und das Gemeine.

Im Original stammt dieser Satz vom Apostel Petrus. Kurz vor dem Leiden Jesu sagt er zu ihm: „Und wenn alle an dir Anstoß nehmen – ich werde niemals an dir Anstoß nehmen!“ (Mt 26,33)

Schon zuvor neigte Petrus allerdings zum Übermut. Als Jesus einmal davon sprach, dass er in Jerusalem leiden und sterben werde, hatte Petrus ihm scharf widersprochen: „Das darf nicht mit dir geschehen!“ (Mt 16,22) Nirgendwo in der Bibel weist Jesus einen Menschen so harsch zurecht wie an dieser Stelle den Petrus. Er sagt zu ihm: „Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“

Petrus wollte sich Jesus aus Liebe in den Weg stellen. Denn zur Freundschaft gehört es, den Freund vor dem Leiden zu bewahren. Was Petrus jedoch noch nicht wusste, war, dass er sich mit diesem Protest der göttlichen Liebe selbst in den Weg stellte. Und die muss dahin gehen, wo die Schuld und der Schmerz am größten und das Erbarmen und die Erlösung Gottes am nötigsten ist. Er sollte Jesus nicht voran-, sondern hinterhergehen. Und zwar soweit es ging.

Wie weit das sein würde, das wurde für die Jünger immer unsicherer. Bis Jesus ihnen beim Abendmahl sagt, einer von ihnen werde ihn verraten. Einer nach dem anderen fragt: „Bin ich es etwa, Herr?“ Jetzt ahnte jeder, dass die Möglichkeit des Verrates auch in ihm steckte.

Als Jesus später ankündigt, dass alle an ihm Anstoß nehmen und ihn verlassen würden, bricht aus Petrus der alte Übermut ein letztes Mal heraus: „Wenn auch alle – ich nicht!“ Und Jesus sagt ihm, dass er ihn noch vor dem Hahnenschrei dreimal verleugnen werde. Als wenig später Jesus verhaftet wird, fliehen die Jünger. Alle. Auch Petrus. Und als er sich später nochmal in die Nähe Jesu traut, wird er auf ihn angesprochen und verleugnet ihn: „Ich kenne diesen Menschen nicht!“

Warum hat Philipp von Boeselager sich ausgerechnet dieses Wort als Lebensmotto gewählt? Wenn Petrus selbst sich offensichtlich überschätzt und Jesus wenig später eben doch verlassen hat – genau wie alle anderen auch. Als ich mit Boeselager einmal über den Druck auf Menschen im Widerstand gegen übermächtiges Unrecht sprach, sagte er, wir könnten uns unserer selbst halt niemals sicher sein. Auch er war sich seiner selbst nicht sicher: Weil er fürchtete, unter der Folter sofort zusammenzubrechen, trug er bis Kriegsende für den Fall seiner Verhaftung immer eine Zyankali-Kapsel bei sich. Bei Vorträgen pflegte er zu sagen: „Die Überlebenden einer Tragödie sind niemals deren Helden.“

Wenn andere vor großen Herausforderungen ängstlich werden, dann muss ich mich immer erinnern, dass ich nicht an ihrer Stelle bin. Ich weiß nicht, ob ich den Heldenmut gehabt hätte, den ich von ihnen erwarte. Petrus wollte ein Held sein und für Jesus sterben. Doch am Vorabend von Ostern kehrt sich für ihn die Geschichte um: Nicht er stirbt für die Liebe. Zuerst stirbt die Liebe für ihn. Und sie siegt ein für alle Mal dort, wo sie auch am Kreuz und im Hass die Liebe bleibt.

Der Glaube an diese vorausgehende Liebe Gottes hat seither unzähligen Menschen den Mut gegeben, beides zu tun: sich ihrer Schwachheit zu stellen – und diese Entscheidung zu wagen: „Wenn auch alle – ich nicht.“

Fra' Georg Lengerke

Herzlich Willkommen und sei verflucht (Morgenandacht DLF vom 3. April 2023)

„Sie küssten und sie schlugen ihn.“ So lautet der deutsche Titel eines preisgekrönten Films von Francois Truffaut aus dem Jahr 1959. Er handelt von einem 14jährigen Jungen in Paris, der in zerrütteten Familienverhältnissen aufwächst, und abwechselnd die Zuwendung und Ablehnung der Erwachsenen erfährt.

Auch wenn die Geschichte eine ganz andere ist – „Sie küssten und sie schlugen ihn“ wäre auch eine passende Überschrift über den Ereignissen der letzten Tage Jesu. Das wird besonders am gestrigen Palmsonntag deutlich, an dem die Kirche sich diese letzten Tage in Erinnerung ruft: Da wird Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem mit dem begeisterten Jubelruf der Menge empfangen. Doch schon wenige Tage später folgt der Karfreitag, an dem Jesus von der aufgepeitschten Menge verworfen und schließlich qualvoll hingerichtet wird.

Es muss eine geradezu volksfestliche Stimmung gewesen sein, als Jesus am Palmsonntag auf einem Esel in die Stadt einzog. Die Bibel erzählt, die Menschen hätten die Straße mit ihren Kleidern und mit Zweigen bedeckt. Sie singen Psalmen über den kommenden Messias, und die Augenzeugen erinnert das Ganze an den Propheten Jesaja, der dem Volk Israel, der „Tochter Zion“, ausrichten lässt, dass sein sanftmütiger König auf einer Eselin in Jerusalem einziehen wird.

Mir ist an der Stelle immer etwas weihnachtlich zumute. Der Evangelist Matthäus zitiert aus dem Alten Testament dieselben Texte, die wir heute noch in dem Weihnachtslied „Tochter Zion“ von Georg Friedrich Händel singen: „Tochter Zion, freue dich! / Jauchze laut, Jerusalem! / Sieh, dein König kommt zu dir! / Ja, er kommt, der Friedensfürst.“ Die Freude in dieser Szene hat wirklich etwas Weihnachtliches. An Weihnachten kommt Gott als Mensch in die Geschichte der Welt und jedes Menschen, der ihn aufnehmen will. Am Palmsonntag zieht derselbe in die heilige Stadt ein und wird von den Menschen als der erkannt, willkommen geheißen und gefeiert, der ihr Leben wenden kann.

In den folgenden Tagen spitzt sich die Lage um Jesus zu – bis er nach der Feier des Abendmahls in einem Garten am Ölberg außerhalb der Stadtmauer verhaftet wird.

Während des öffentlichen Prozesses hat sich das Blatt komplett gewendet. Die aufgehetzte Menge fordert seinen Tod, und will den am Kreuz sterben sehen, den sie gerade noch als messianischen König bejubelt haben. Wie viele davon waren wohl dieselben, die am einen Tag ihre Mäntel vor Jesus auf die Straße gebreitet und aus voller Kehle den Jubelruf Hosanna angestimmt haben – und wenig später wutschnaubend seinen Tod forderten?

Ich frage mich, wo ich in diesen Tagen gewesen wäre. Auch die Jünger haben ja im Laufe dieser Tage alle die Flucht ergriffen, ihn verleugnet oder verraten. Wo hätte ich gestanden, wenn selbst seine Nächsten nicht geblieben sind?

Vor einigen Jahren hatte ich in der Zeit vor Ostern eine unruhige Zeit. Es stellte sich die Frage, wie es mit mir weitergehen sollte. Irgendwie war ich „dünnhäutig“ und sensibler als sonst – auch im Hören der Lesungen der Woche vor Ostern. Mir ging alles reichlich nahe: das „Hosanna dem Sohne Davids!“ wie das „Ans Kreuz mit ihm!“

Am Karfreitag bei der Verehrung des Kreuzes sah ich dann den nackten Jesus am Kreuz hängen. Die Arme weit ausgebreitet. Als wollte er mich und die ganze Menschheit umarmen. Sie hatten ihn geküsst und geschlagen. Und nun kam es mir so vor, als wäre er es, der mich willkommen heißt. Als wäre an diesem tiefsten Punkt seines und unseres Lebens er derjenige, der uns erwartet und ankommen lässt bei ihm, um uns in die Arme zu schließen und uns mitzunehmen in jenes Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat.

Fra' Georg Lengerke

Asinus Dei – Na, du alter Esel? Mt 21,1-11

„Na, du alter Esel?“ sagte unser Vater manchmal zu mir oder einem meiner Brüder als wir Kinder waren. In der Regel war das eine Art Versöhnungsangebot nach einem Knatsch. „Gehts wieder?“ sollte das heißen, oder: „Wollen wir uns wieder vertragen?“

Warum „alter Esel“? Vielleicht wegen der Sturheit einerseits und der Treue und Friedfertigkeit andererseits, die dem Esel zugeschrieben werden. „Alter Esel“ war für mich eine Art Kosename. Und einer, den ich nicht ungern hatte.

Vielleicht ist das der Grund, warum es mir der Esel im Evangelium vom Einzug Jesu nach Jerusalem angetan hat. In der euphorischen Menge, die Jesus heute zujubelt und ihn morgen verflucht, fühle ich mich unwohl. Aber beim Esel bin ich gerne. Mit dem Esel beginnt eine Geschichte, die mir einen Vorgeschmack auf den Neuanfang gibt, den die Jünger nach Ostern erleben werden.

Drei Evangelisten berichten, dass Jesus auf dem Weg nach Jerusalem zwei Jünger vorausschickt, um für ihn einen bestimmten Esel (bzw. eine Eselin) als Reittier zu holen, auf dem noch nie jemand gesessen hat.

„Bindet ihn los!“ sagt Jesus den beiden Boten. Die Abholung geht nicht einfach so. Es braucht eine Loslösung, eine Entbindung, ja eine Erlösung aus alten, fremden und nicht länger gültigen Ansprüchen und Bindungen.

In diesem kleinen Wort „Bindet ihn los“ wird die ganze Dramatik späterer Nachfolgewege angedeutet. Menschen werden entbunden, herausgelöst aus der alten, knechtenden Herrschaft von Menschen und Mächten zum neuen Leben in der befreienden Herrschaft Gottes.

Übrigens wurde das gleiche Wort für „lösen“ am vergangenen Sonntag schon einmal gebraucht: Bei der Auferweckung des Lazarus steht dieser in der Graböffnung. Wie eine lebendige Mumie. Von oben bis unten eingewickelt in die Banden und Binden des Todes. Löst ihm die Binden! – Bindet ihn los! sagt Jesus zu den Umstehenden, damit Lazarus ins Leben kommt (Joh 11,44).

Die Loslösung dessen, den Jesus ruft, bleibt nicht ohne Widerspruch. Es werden Ansprüche angemeldet. Auch vom Besitzer des Esels. Die Antwort der Boten Jesu ist einfach und von schmerzlicher Autorität: „Der Herr braucht ihn!“ Hier und jetzt hat ein Anderer einen größeren Anspruch als der bisherige Besitzer. Aber der wird nicht leer ausgehen: Der Herr „lässt ihn bald zurückbringen“, lässt Jesus die Jünger ausrichten.

Dann heißt es, die Jünger legten ihre Kleider auf den Esel. Es ist, als zögen sie ihm ihr Kleid an. Als wäre er einer von ihnen. Und stimmt das nicht irgendwie auch? Freund und Jünger Jesu sein heißt ja auch: Jesus tragen. Christsein heißt: Christus tragen. Hinein in die Heilige Stadt im Festzug für den erwarteten König, zugleich aber auch hinein in die Höhle des Löwen, hinein in den Streit und in den Hass der Welt.

Der Esel beim Einzug in Jerusalem erinnert mich an den hl. Christophorus, den „Christus-Träger“, der, indem er unversehens das göttliche Jesuskind durch einen Fluss trägt, den Herrn der Welt gefunden hat, dem er von nun an dienen und den er sein Leben lang zu den Menschen tragen wird.

Heute sagt mein Vater nur noch selten: „Na, du alter Esel?“. Vielleicht, weil die Notwendigkeit der Versöhnung nicht mehr so häufig ist. Vielleicht auch deshalb, weil er die Lektion dessen gelernt hat, der zulassen muss, das sein „alter Esel“ losgebunden wird und geht, um ihn später auf neue Weise wieder zu bekommen.

Wie wird das nach Ostern sein? Alle Jünger hatten Jesus ja verlassen, alle waren von einer geradezu eselhaften Sturheit gewesen. Aber mit jedem will Jesus wieder neu anfangen, jedem will er möglich machen, dass er sich wieder mit ihm versöhnt.

Und wer weiß? Vielleicht wird Jesus dem einen oder anderen augenzwinkernd zulächeln, und ihm zum Neuanfang sagen: „Na, du alter Esel?“

Fra' Georg Lengerke