„Irgendwie kommt Weihnachten jedes Jahr überraschend“, sagte vor Jahren eine Freundin von mir und lächelte. Sie ist Mutter einer kinderreichen Familie und wollte sagen: Die Vorbereitungszeit ist immer zu kurz. Wir nehmen uns immer zu viel vor. Es wäre immer noch was zu tun. Und scheinbar plötzlich ist keine Zeit mehr, weil Weihnachten ist.
Dieses Jahr mag es einem erst recht so vorkommen. Der Advent ist so kurz wie nie. Die Vierte Adventswoche dauert nur einen Tag. Am Abend des Vierten Advents beginnt das Weihnachtsfest – „irgendwie überraschend“.
Von einem Erschrecken erzählt das heutige Evangelium: Ein Engel verkündet Maria die Geburt Jesu. Aber Maria erschrickt nicht etwa darüber, dass ein Engel im Zimmer steht. Sie hat ja nicht von ihm geträumt wie Josef oder eine Engel-Erscheinung gehabt wie Zacharias, der Vater Johannes des Täufers.
Ein sichtbarer Engel im Zimmer – das wäre mal ein Grund zum Erschrecken. Aber Maria erschrickt nicht über seine Sichtbarkeit. Es klingt fast so, als wäre die ihr ganz selbstverständlich. Sie erschrickt über seine Anrede.
„Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“, sagt der Engel. Und Maria, erzählt der Evangelist Lukas, „erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe.“ Das möchte ich verstehen und mitempfinden: „Sie erschrak … und überlegte.“
Gut, wenn Josef das gesagt hätte, dann wäre das charmant gewesen und zärtlich und vielleicht verliebt. Aber dieses Wort tritt aus der „unsichtbaren Welt“ (Credo), aus der Unverfügbarkeit und Unerreichbarkeit Gottes in Gestalt des Engels bei ihr ein: „Du Begnadete!“ Und sie erschrickt.
Ich stelle mir vor, ich nähme eine solche Zusage von Ich-weiß-nicht-wo wahr. Ich würde fragen: Was heißt hier begnadet? Was weißt Du, was ich nicht weiß?
Und ich würde mich erinnern an das, womit ich „begnadet“ wurde: An das, was ich geschenkt bekam, ohne es verdient zu haben. An das, was ich bin, ohne mich entschieden oder es gemacht zu haben. Und schließlich an das, was zu entscheiden und zu tun, zu lernen und zu bauen mir ermöglicht und erlaubt wurde. „Du Begnadeter!“ Und dann würde ich an das denken, was schon da ist, was ich aber noch nicht erkannt und angenommen habe. An den Schatz im Acker, der noch nicht gehoben ist und darauf wartet, gefunden und gehoben zu werden.
„Der Herr ist mit dir.“ Das ist er. Der ungehobene Schatz. Alles, woran ich mich gerade erinnerte, war Gabe. Jetzt aber heißt es vom Geber, dass er bei mir, in mir, mit mir ist. Auf meiner Seite. Nicht gegen die Anderen, mit denen ich mich auseinandersetze. (Irritierenderweise ist er ja auch „mit ihnen“.) Sondern in mir mit mir. Auch da, wo ich gegen mich selber bin, oder gegen meine Seele, gegen das, was ich von Gott her bin. Gott kommt auf meine Seite in mir. Und er überwindet mit mir, was ich nicht bin – auch wenn ich es krampfhaft zu sein versucht habe.
„Der Herr ist mit dir.“ Und zwar nicht nur in einem geistig-intellektuellen beziehungsweise geistlich-spirituellen Sinn. Sondern leiblich und anfassbar, sichtbar und hörbar, verständlich und zugleich unbegreiflich. Denn als Kind ist er kleiner und als Gott unvergleichlich, unendlich größer als ich.
Weihnachten heißt: Was in Maria geschieht, geschieht für uns. Gott wird ein Mensch. Und was für uns geschieht, soll in uns geschehen. Der in Maria Mensch gewordene Gott tritt in unser Leben ein, um „Immanuel“ – „Gott mit uns“ zu sein – damit auch wir selbst wieder bei uns, mit uns und in uns sind – und mit Gott für die Anderen.
„Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir.“ Der Advent ist dieses Jahr kurz. Heute Abend schon beginnt das Weihnachtsfest. Wie gut, dass wir noch ein Leben lang Zeit haben, um zu überlegen, „was dieser Gruß zu bedeuten habe.“
Fra' Georg Lengerke