24.12.2024
Nach dem Anschlag am Vorabend ist Samstagmorgen der Alte Markt in Magdeburg ein Ort der Verwüstung: zersplitterte Stehtische, ein zerdrückter Kinderwagen und vereinzelte Kleidungsstücke, Verpackungen von Spritzen und Verbänden, goldene Rettungsdecken und auf dem Boden Spuren von Blut.
Den einen sind diese Bilder unauslöschlich eingebrannt. Für andere sind sie heute schon wieder Schnee von gestern.
Und dann fällt mittags ein bedenkenswertes Wort. Ein Beigeordneter der Stadt sagt dem MDR: „Weihnachten in Magdeburg ist vorbei.“
Ist das so? Was mag der Mann gemeint haben? – Und womit hat er vielleicht recht?
Die Endlosschleife Jingle Bells aus den Lautsprechern ist zu Ende. Der Mandel- und Bratgeruch hat sich verzogen. Die glühweinseligen Sänger in den Buden sind verstummt, und kein Kind schaut mehr strahlend auf die duftenden Köstlichkeiten in den Auslagen.
Ein Weihnachtsmarkt ist nicht nur ein Riesengeschäft. Er ist für viele auch Sehnsuchtsort nach einer heilen Welt, nach Frieden, Versöhnung und Gemeinschaft. Taleb Al Abdulmohsen hat den Weihnachtsmarkt in Magdeburg in ein Schlachtfeld verwandelt. Er hat fünf Menschen getötet und über 200 verletzt. Der Weihnachtsmarkt in Magdeburg ist vorbei. Der Sehnsuchtsort ist zerstört.
Aber was ist mit der Sehnsucht der Menschen? Und was mit ihrer Hoffnung? Ist Weihnachten vorbei? Wie sollen wir Weihnachten feiern inmitten der Zerstörung? Wie angesichts jener unentwirrbaren Mischung von Verwirrung, Bosheit und Krankhaftigkeit, die uns in Taten wie dieser begegnet. Und nicht nur in Magdeburg, sondern überall in der Welt.
Ich habe mir dieser Tage vorgestellt, ich wäre eingeladen auf das Geburtstagsfest eines Freundes. Dort bekomme ich die Nachricht, dass ein Anschlag auf meine Familie verübt wurde. Die Feier wäre augenblicklich vorbei. So wie wenn man einen Stecker zieht und alles auf einmal dunkel wird.
Aber nicht der Geburtstag. Der bleibt. Und auch der Freund ist für mich nicht plötzlich weg oder entbehrlich. Im Gegenteil. Die Feier ist vorbei. Aber der Gefeierte ist da. Und wenn er wirklich mein Freund ist, dann werde ich ihn bitten, mit mir zu kommen und nach den Meinen zu sehen.
Werde ich später, angesichts der Verwüstung meines Lebens nicht erst recht froh sein, dass es ihn gibt und er bei mir war? Ich werde seinen Geburtstag anders feiern als früher. Aber könnte ich diesen Tag jemals wieder vergessen?
Dies ist die Nacht, in der wir Menschen aufwachen müssen, wenn wir nicht verzweifeln wollen. Die heile Welt, die wir uns jetzt und hier herbeiwünschen, gibt es nicht. Sie kommt uns nur so vor, wo wir ihre Wunden nicht sehen wollen. Wo wir uns ihr Leid, ihre Verwirrungen und ihre Bosheit schönreden oder sie gleich ganz verleugnen. Der Friede und die Freude, nach denen wir uns sehnen, sind unvollkommen und selten und oft nur zu ahnen.
An Weihnachten feiert die Christenheit nicht eine heile Welt, sondern dass Gott kommt, die Welt zu heilen. Wir feiern nicht den ewigen Frieden, sondern dass der Friedensfürst kommt. Wir feiern, dass in die versehrte Welt die Rettung Gottes kommt. Leise, klein und zart. In einem verletzlichen Kind, in dem Gott selbst sich den Menschen zeigt.
„Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren.“ Diese Geburt wird überall gefeiert. Auch da, wo es aussieht, als seien Mensch und Welt verloren. Auch in Charkiw und Gaza, in Straflagern und Todeszellen, in Krankenhäusern und in Hospizen, auf den Schlachtfeldern und in den Trümmern der Welt. Gerade dort.
Ursprünglich wurde der Weihnachtsmarkt in Magdeburg wegen der Geburt Christi gefeiert. Heute feiern wir die Geburt Christi wegen des Weihnachtsmarktes in Magdeburg.
Und wer weiß, wenn Gott will, findet sich heute Nacht auch auf dem Alten Markt jemand ein, der zwischen den Blutflecken sein Knie beugt und das Kind anbetet, das unsere Wunden und die Schuld der Welt vor Gott trägt. Weihnachten ist nie vorbei.
Fra‘ Georg Lengerke
Bild: Andreas Trojak, Terroranschlag Berlin 19. Dezember 2016, https://www.flickr.com/photos/andreastrojak/31731061626, ergänzt durch Geertgen tot Sint Jans, Die Krippe bei Nacht, 1490
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