Die Lebenslüge Mt 21,28–32

Ich sitze in einer unbekannten Gesprächsrunde. Wir sprechen darüber, was wer beruflich macht, als einer mich fragt: „Und, wie ist das so, mit einer Lebenslüge zu leben?“

Offenbar fand er, dass der priesterliche Zölibat eine einzige verlogene Heuchelei sei.

Ich habe mich sehr geärgert. Aber anstatt wütend zu werden, lächelte ich die Sache weg. Doch die Frage hat mich – und zwar anders als beabsichtigt – nicht losgelassen: „Wie ist das, mit einer Lebenslüge zu leben?“

Jesus erzählt von zwei Söhnen, die ihr Vater beide zur Arbeit in den Weinberg schickt. Der eine weigert sich und geht dann doch. Der andere sagt Ja, geht aber nicht hin.

Wie ist das mit meinen Lebenslügen, wenn ich mich Christ nenne, aber lebe, als gäbe es Gott nicht? Oder wenn ich von anderen selbstverständlich erwarte, was ich selbst nicht zu leben vermag? Oder wenn ich Menschenrechte für heilig halte, sie aber Menschen erst ab einem bestimmten Alter zugestehe?

„Die Zöllner und die Dirnen haben Johannes geglaubt“, sagt Jesus den religiös und moralisch Etablierten, „ihr aber habt nicht bereut und ihm nicht geglaubt“.

In der Fazenda da Esperanza in Brasilien bin ich einer jungen Frau begegnet, die als Mädchen einen Mann umgebracht hat, in dessen Abhängigkeit sie geraten war. Sie sagte mir: „Für die Menschen war ich nur noch ein Stück Dreck. Und ich habe einen Gott kennen gelernt, der mich liebt und mich heil macht – obwohl ich eine Mörderin bin.“

Seitdem halte ich Ausschau nach denen, die erst Nein gesagt und dann zum Ja gefunden haben, damit ich von ihrem Ja zur Liebe Gottes lernen kann.

Mittlerweile bin ich dem Flegel fast dankbar für seine pampige Gewissensfrage: „Wie ist das, mit einer Lebenslüge zu leben?“

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Nicht die Gerechten Mt 9,9-13

Als ich vor Jahren am Fest des Apostels Matthäus in der Heiligen Messe das Evangelium gerade gelesen, das Buch verehrt und auf den Ambo zurückgelegt hatte, sah ich, dass mein damals vielleicht zehnjähriger Neffe mit seiner Mutter flüsterte. Sie sagte ihm, er solle sich mit seiner Frage nach der Messe an mich wenden: „Onkel Georg, warum ruft Jesus die Sünder und nicht die Gerechten?“, fragt er mich später vor der Sakristei.

„Tja, was meinst Du?”, frage ich ihn, um etwas Zeit zu gewinnen. Er denkt kurz nach.

„Vielleicht, weil die Gerechten ja schon bei ihm sind und die Sünder nicht?“ Hätten wir es dabei belassen, wäre es ein kurzes Gespräch gewesen. Also frage ich zurück: „Und, meinst Du, dass es viele gibt, die so gerecht sind, dass sie von Jesus gar nicht mehr gerufen werden müssen?“ „Nee“, meint er, und grinst verschmitzt, „irgendwann muss jeder gerufen werden.“

Einige Jahre später spricht mich an genau derselben Stelle vor der Sakristei eine Frau an. „Also ich kenne einige, die gerade in der Messe waren, für die das sehr, sehr wichtig war, was Sie heute gesagt haben!“ Da fällt mir das erste Gespräch wieder ein und dass es eben doch Menschen gibt, die sich für so gerecht halten, dass sie meinen, das Wort Jesu ginge vor allem die Anderen an.

Caravaggio stellt auf dem Bild der Berufung des Matthäus (in der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom) den Moment dar, in dem Matthäus sich fragt, ob der Ruf Jesu eigentlich ihm gilt. Er zeigt mit dem Finger auf sich selbst, und das Gesicht mit den weit offenen Augen scheint zu fragen: Meinst Du mich?

Es muss sein ganzes Leben geprägt haben, von diesem Wort unbegreiflicherweise gemeint zu sein: „Folge mir nach!“

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Ärgerliche Gleichstellung Mt 20,1-16

„Beginnend mit den Letzten“ findet am Abend eines langen Arbeitstages im Weinberg die Auszahlung statt. Die zuletzt Angeworbenen haben nur eine Stunde gearbeitet. Doch ihr Tageslohn entspricht dem, mit den Zuerstgekommenen am Morgen Vereinbarten. Als diese auch nur das Vereinbarte bekommen, ist der Ärger groß.

„Dir geschieht kein Unrecht“, erklärt der Herr des Weinbergs einem der Empörten, der das Vereinbarte bekam. Und er entlässt ihn mit einer Frage: „Ist Dein Auge böse, weil ich gut bin?“

Das kann passieren. Güte macht uns nicht automatisch gut. Güte gegenüber Dritten kann Missgunst, Neid und Bosheit provozieren. Wenn sie ihnen nicht gegönnt, wird der Blick „böse“, sagt der Gutsherr. Der böse Blick macht das Gute schlecht und das Schlechte gut. Er verdirbt die Freude und macht das Beleidigtsein zu einem guten Recht.

Aber Jesus erzählt hier ein Gleichnis für das Himmelreich, das auf Erden beginnt. Und zwar dort, wo Gott die Menschen sucht und findet, so dass sie mit ihm wirken und lieben. Dieses Mitwirken-Dürfen mit Gott hat was von der Fülle und der Dankbarkeit eines Erntefestes. Während nicht gesucht, nicht gefunden und nicht angeworben zu werden, die Erfahrung von Leben ohne Sinn und Richtung ist.

Für den „böse“ gewordenen Blick ist alles umgekehrt: die Arbeit im Weinberg ist im Nachhinein nur „Last und Hitze“ gewesen. Der Müßiggang der Spätgekommenen erscheint dagegen als das geringere Übel, wenn nicht als das eigentlich Glück.

Der Denar aber
ist gar nicht verdienter Lohn.
Er ist Gottes Gabe
der gleichen Würde,
die nicht verdient werden kann
und die die Ersten den Letzten
und wir einander
täglich gönnen sollen.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Mutterschmerz Joh 19,25-27

Am Fest der „Schmerzen Mariens“ wird uns erzählt, wie Jesus vom Kreuz Maria und den Lieblingsjünger einander anvertraut: „Siehe, Dein Sohn!… Siehe, Deine Mutter!“

In dieses Anvertrauen sind wir einbezogen: „Dein Sohn hat uns am Kreuz die selige Jungfrau Maria zur Mutter gegeben.“ heißt es im heutigen Gabengebet.

Ich muss an diesem Tag an die vielen Schmerzensmütter bis heute denken. Eine davon ist meine Urgroßmutter Maria Rosa.

Sie stammte aus Böhmen. Nach ihrer Hochzeit 1907 lebten sie auf dem Besitz meines Urgroßvaters in Sachsen. Zwischen 1908 und 1924 brachte sie acht Söhne und meine Großmutter zur Welt.

Fünf Söhne fielen im Krieg. Einige hinterließen Witwen von Anfang zwanzig und kleine Kinder.

Die Urgroßeltern flohen ins Rheinland zur Familie einer ihrer Schwiegertöchter. Im Frühjahr 1949 starb der Urgroßvater 66jährig. 1955 beerdigte meine Urgroßmutter ihren sechsten Sohn, der an Krebs gestorben war.

Ein Jahr später geriet sie mit ihren beiden verbliebenen Söhnen in einen Unfall. Meine Urgroßmutter überlebte schwer verletzt, die beiden Söhne erlagen ihren Verletzungen. Kurz vor seinem Tod ließ sie sich im Rollstuhl an das Sterbebett ihres letzten Sohnes bringen. Sie war bei ihm, als er starb – als stünde sie mit Maria unter dem Kreuz.

Maria ist in der Freude Gottes. Doch zugleich bleibt sie die Mutter, Schwester und Gefährtin aller Schmerzensmütter aller Zeiten und Orte.

Heute Abend werden wir in München die Heilige Messe für den Libanon feiern. Für die vielen um ihre Existenz und Zukunft Gebrachten, für die behinderten Freunde und jene, die für sie da sind – und für die Schmerzensmütter im ganzen Heiligen Land und bei uns, die für uns unter dem Kreuz stehen.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie

Vergebliche Vergebung Mt 18,21-35

Ein Bekannter von mir arbeitete beim sogenannten Trash-TV. Höflich gesagt: beim Fernsehen im unteren Qualitätssegment. Das fand er eine Weile lustig.

Irgendwann riet ihm seine Managerin dazu, auszusteigen. Er habe bald sein „FP“ (im Jargon: „Eff-Pie“) bei den Zuschauern verbraucht. Was das sei, fragte mein Bekannter. „Das Forgiveness-Potential“, sagte sie. Irgendwann seien die Leute nicht mehr bereit, einem den Schrott zu vergeben.

Wann, fragt Petrus, ist mein „FP“ aufgebraucht? Jesus erzählt ihm ein Gleichnis vom unerschöpflichen Vergebungspotential Gottes. Ein König entlässt seinem Minister den Betrag eines ganzen Staatshaushaltes. Der allerdings hält seinerseits am Bruchteil der Schuld eines Mitbeamten fest und setzt seinen Anspruch trotz dessen Bitte um Stundung durch.

Offenbar ist die Vergebung des Königs bei dem Minister gar nicht wirklich angekommen. Zumal der gar nicht um Vergebung, sondern nur um Stundung gebeten hatte. Er wollte keine Gnade. Er wollte Recht. Aber vor dem Recht hatte er mit der unbezahlbaren Schuld keine Chance.

Wer die Vergebung Gottes erbeten, geglaubt und angenommen hat, wer weiß, dass er – ohne es verdient zu haben – nochmal so herausgekommen ist aus seiner Schuld, der empfängt mit der Vergebung auch die Gabe, vergeben zu können.

„Vergib uns unsere Schuld“
und befreie uns
von der ängstlichen Macht
über die, die an uns schuldig wurden.

Schleife die Festung
unseres Opferseins
und unserer sorgfältig gepflegten
Kränkungen,
damit wir zu
Tätern Deiner Gnade werden
und zu Helfern Deiner Vergebung.
Amen.

Fra’ Georg Lengerke

Schott Tagesliturgie