03.11.2020
Seit gut 20 Jahren fahre ich mit jungen Leuten in den Libanon. Die Gemeinschaft junger Malteser veranstaltet dort Ferien mit schwerst geistig und körperlich behinderten Menschen. Für viele von ihnen ist das die einzige Zeit im Jahr, in der sie außerhalb des Heims eine Zeit mit einem Menschen verbringen, der ganz für sie da ist.
Ein Höhepunkt dieser Tage ist ein Festessen am letzten Abend. Alle verkleiden sich oder ziehen sich schön an. Bei einem spastisch gelähmten Mädchen bringt ein wenig Schminke ihre Anmut zum Vorschein. Ein junger Autist strahlt mit Schlips und Jackett nun eine ernste Würde aus. Der Speisesaal wird zum Festsaal. Mit einfachen Mitteln gibt es ein mehrgängiges Menü. Das Team der Helfer bedient.
Das Neue Testament der Bibel sagt: So ist der Himmel. Wie ein Festmahl. Aber was ist das eigentlich, Himmel? Der Himmel, sagt die christliche Tradition, ist vollendete Glückseligkeit bei Gott. Diese Glückseligkeit wird vollkommen, wenn wir einmal bei Gott ankommen. Aber sie beginnt bereits, wo Gott uns im Alltag begegnet. Zum Beispiel bei einem Festessen: Da geht es um Gemeinschaft, um die Würde der Gäste und um die Freude an den Früchten der Erde; es geht darum, einander zu dienen und bedient zu werden. Und in all dem ist Gott mit uns am Werk.
In der Bibel beschreibt Jesus den Himmel als ein Festessen mit Hindernissen (Lk 14,15-24). Die zuerst zum Mahl Eingeladenen haben Wichtigeres vor. Einer nach dem anderen lässt sich entschuldigen. In Windeseile disponiert der Hausherr um. Er lässt von den Gassen und Straßen die holen, die arm sind oder leidend, die nicht sehen und nicht gehen können. Eigentlich hätten die später von den zuerst Eingeladenen zum Fest gebracht werden sollen. Aber die wollten nicht. Nun sind die Armen und Kranken selbst die Ehrengäste, während die zuerst Eingeladenen fehlen.
Weil immer noch Platz ist, werden die Diener nochmal losgeschickt, um die Leute von den Hecken und Zäunen zusammenzutrommeln, damit das Haus voll wird.
Ich stelle mir vor, ich wäre unter diesen Nachgeladenen. Es wäre ein Fest von ungekanntem Glanz. Zugleich wäre ich zusammen mit Leuten, auf die ich mich sonst so nie eingelassen hätte. So, sagt Jesus, ist der Himmel.
Das Bild vom Himmel leuchtet mir vor allem bei den Festessen im Libanon ein. Dafür sorgte Rita. Sie ist eine alte Freundin von uns und hat eine geistige Behinderung. Seit Tagen hatte sie schlechte Laune. Sie erschien in einem schmuddeligen Jogginganzug, der gut zu ihrer Stimmung passte. Mürrisch betrachtete sie die Tische. Als sie die Teelichter sah, hielt sie kurz inne, entwischte ihrer Begleiterin und zerdrückte blitzschnell mit ihrem Finger das erste brennende Teelicht. Rita jauchzte, und mir ihr einige andere Gäste. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte sie alle Teelichter gelöscht und dabei ordentlich Wachs über die Tische verteilt. Rita war in bester Stimmung und mit ihr die ganze Runde.
Irgendwie schien alles auf den Kopf gestellt. Und erst jetzt war es stimmig. Nicht wir sind die Herren dieses verrückten Festes. Gott ist es und seine Ehrengäste. Und die geben uns Helfern die Ehre. Unsere überkandidelte Dekoration war vom Tisch, und statt der Kerzen leuchteten 70 Gesichter im Raum. Wir sangen arabische Kinderlieder und rheinische Karnevalsschlager. Und später dann als Nachtgebet wie jeden Abend „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ von Dietrich Bonhoeffer.
An diesen Abenden bete ich, dass ich nichts Wichtigeres vorhabe, wenn die Einladung zum Fest kommt, mit dem der Himmel beginnt; und dass mich die Armen und Kranken, die Abgehängten und Weggesperrten nicht schrecken, die die unerwarteten Ehrengäste dieses Festes sind. Und ich bitte, dass sich für uns die Bitte aus Bonhoeffers Lied erfüllt:
„Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet /, so lass uns hören jenen vollen Klang / der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, / all deiner Kinder hohen Lobgesang.“
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