Hirte oder Mietling? (Morgenandacht im DLF am 4.11.2020)

Quelle: Katholische Hörfunkarbeit

Irgendwann mitten im Lockdown telefonierte ich mit einem aufgebrachten Bekannten. „Wenn Ihr Priester ins ‚Homeoffice‘ geht, dann ist das genauso, als wenn eine Krankenschwester oder ein Busfahrer sagen würden, sie arbeiteten jetzt von zuhause aus!“ Sofort wollte ich mich verteidigen. Aber ich wusste, dass daran etwas Wahres ist.

Die katholische Kirche gedenkt heute eines Seelsorgers, dem das Konzept ‚Homeoffice‘ für Seelsorger völlig fremd gewesen wäre: des heiligen Karl Borromäus, Erzbischof von Mailand. Sein Leben im 16. Jahrhundert besitzt für mich eine große Aktualität. Auch er lebte in einer Zeit des Umbruchs und der Erneuerung der Kirche. Zeitgenossen beschreiben ihn als betenden Menschen, als begnadeten Seelsorger und Organisator. Kraftvoll setzte er sich für die kirchlichen Reformen nach dem Konzil von Trient ein. Und er war Bischof in Zeiten einer Pandemie. In den Jahren 1576 bis 1578 wütete in Mailand die Pest. Mit gewaltiger Anstrengung setzte sich Karl Borromäus für eine umfassende gesundheitliche und seelsorgliche Versorgung ein. Diese Anstrengung ging so weit, dass er selbst schließlich an Entkräftung starb.

An seinem Gedenktag wird in der Kirche ein Text aus der Bibel gelesen, in dem Jesus von Nazareth davon spricht, wie er für die Menschen da ist. Dabei benutzt er das Bild vom „guten Hirten“ Der gute Hirt ist ein altes Symbol der idealen Sorge eines Königs für sein Volk. Doch im Verständnis Jesu ist die Herde nicht dazu da, dass der Hirte lebt. Sonders andersherum: Der Hirte ist dazu da, dass die Herde lebt. „Ich bin der gute Hirt. Ich gebe mein Leben für die Schafe,“ sagt Jesus (Johannes 10,11). Dem guten Hirten ist jedes einzelne ihm anvertraute Leben so kostbar, dass er dafür sein eigenes Leben riskiert und notfalls drangibt.

So, sagt Jesus, sorgt er und so sorgt Gott für den Menschen. Das ist nicht bloß ein schönes, unerreichbares Ideal. Wir leben täglich davon, dass unser Wohlergehen anderen Menschen so wichtig ist, dass sie um unseretwillen etwas riskieren. Angefangen bei Krankenschwestern und Rettungssanitätern, über Eltern für ihre kleinen Kinder oder Kinder für ihre alten Eltern, bis hin zu Menschen wie jenem Mann, der Anfang Juli zwei Kinder aus der Ostsee rettete und dabei selbst ertrunken ist.

Derzeit muss ich täglich an diejenigen denken, die für mich etwas riskieren. Von den vielen, die oft im Verborgenen der Gesellschaft einen nicht ungefährlichen Dienst tun, bis hin zu jenen, denen ich selbst viel zu verdanken habe – vielleicht sogar mein Leben.

Als Gegenbild zum „guten Hirten“ nennt Jesus in besagter Bibelstelle den „bezahlten Knecht“. Damit ist nicht einfach ein Angestellter gemeint, sondern ein „Mietling“, wie Martin Luther übersetzt. Ein Mietling vermietet sich für Geld. Und um das geht es dem Mietling vor allem: um den Erhalt seines eigenen Lebens. Er ist kein Hirt. Die Schafe sind ihm egal. Und wenn der Wolf kommt und es gefährlich wird, ist er weg.

Am Telefon mit dem wütenden Bekannten spüre ich, dass ich mich entscheiden muss:

Will ich zusammen mit dem guten Hirten aus dem Evangelium mein Leben für die Menschen einsetzen? Bin ich bereit, für meinen Nächsten in Not da zu sein, wenn ich merke, dass mehr auf dem Spiel steht als meine Gesundheit?

Oder kreise ich wie der Mietling so sehr um mich selbst und meinen Lebenserhalt, dass ich vor lauter Angst vor dem Tod schon aufgehört habe zu leben?

Der heilige Karl Borromäus starb erschöpft vom Dienst an den Menschen. Ich kann nicht beurteilen, ob er vielleicht er ein wenig besser hätte auf sich achten können. Aber er erinnert mich daran, dass meine Gesundheit nicht immer das höchste Gut ist. Am Ende kommt es auch darauf an, dass ich erkenne, wofür es sich lohnt, gesund zu bleiben oder vielleicht sogar meine Gesundheit zu riskieren.

Denn auch ich lebe, weil täglich jemand für mich sein Leben riskiert.

Himmel – Festessen mit Hindernissen (Morgenandacht im DLF am 3.11.2020)

Quelle: Katholische Hörfunkarbeit

Seit gut 20 Jahren fahre ich mit jungen Leuten in den Libanon. Die Gemeinschaft junger Malteser veranstaltet dort Ferien mit schwerst geistig und körperlich behinderten Menschen. Für viele von ihnen ist das die einzige Zeit im Jahr, in der sie außerhalb des Heims eine Zeit mit einem Menschen verbringen, der ganz für sie da ist.

Ein Höhepunkt dieser Tage ist ein Festessen am letzten Abend. Alle verkleiden sich oder ziehen sich schön an. Bei einem spastisch gelähmten Mädchen bringt ein wenig Schminke ihre Anmut zum Vorschein. Ein junger Autist strahlt mit Schlips und Jackett nun eine ernste Würde aus. Der Speisesaal wird zum Festsaal. Mit einfachen Mitteln gibt es ein mehrgängiges Menü. Das Team der Helfer bedient.

Das Neue Testament der Bibel sagt: So ist der Himmel. Wie ein Festmahl. Aber was ist das eigentlich, Himmel? Der Himmel, sagt die christliche Tradition, ist vollendete Glückseligkeit bei Gott. Diese Glückseligkeit wird vollkommen, wenn wir einmal bei Gott ankommen. Aber sie beginnt bereits, wo Gott uns im Alltag begegnet. Zum Beispiel bei einem Festessen: Da geht es um Gemeinschaft, um die Würde der Gäste und um die Freude an den Früchten der Erde; es geht darum, einander zu dienen und bedient zu werden. Und in all dem ist Gott mit uns am Werk.

In der Bibel beschreibt Jesus den Himmel als ein Festessen mit Hindernissen (Lk 14,15-24). Die zuerst zum Mahl Eingeladenen haben Wichtigeres vor. Einer nach dem anderen lässt sich entschuldigen. In Windeseile disponiert der Hausherr um. Er lässt von den Gassen und Straßen die holen, die arm sind oder leidend, die nicht sehen und nicht gehen können. Eigentlich hätten die später von den zuerst Eingeladenen zum Fest gebracht werden sollen. Aber die wollten nicht. Nun sind die Armen und Kranken selbst die Ehrengäste, während die zuerst Eingeladenen fehlen.

Weil immer noch Platz ist, werden die Diener nochmal losgeschickt, um die Leute von den Hecken und Zäunen zusammenzutrommeln, damit das Haus voll wird.

Ich stelle mir vor, ich wäre unter diesen Nachgeladenen. Es wäre ein Fest von ungekanntem Glanz. Zugleich wäre ich zusammen mit Leuten, auf die ich mich sonst so nie eingelassen hätte. So, sagt Jesus, ist der Himmel.

Das Bild vom Himmel leuchtet mir vor allem bei den Festessen im Libanon ein. Dafür sorgte Rita. Sie ist eine alte Freundin von uns und hat eine geistige Behinderung. Seit Tagen hatte sie schlechte Laune. Sie erschien in einem schmuddeligen Jogginganzug, der gut zu ihrer Stimmung passte. Mürrisch betrachtete sie die Tische. Als sie die Teelichter sah, hielt sie kurz inne, entwischte ihrer Begleiterin und zerdrückte blitzschnell mit ihrem Finger das erste brennende Teelicht. Rita jauchzte, und mir ihr einige andere Gäste. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte sie alle Teelichter gelöscht und dabei ordentlich Wachs über die Tische verteilt. Rita war in bester Stimmung und mit ihr die ganze Runde.

Irgendwie schien alles auf den Kopf gestellt. Und erst jetzt war es stimmig. Nicht wir sind die Herren dieses verrückten Festes. Gott ist es und seine Ehrengäste. Und die geben uns Helfern die Ehre. Unsere überkandidelte Dekoration war vom Tisch, und statt der Kerzen leuchteten 70 Gesichter im Raum. Wir sangen arabische Kinderlieder und rheinische Karnevalsschlager. Und später dann als Nachtgebet wie jeden Abend „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ von Dietrich Bonhoeffer.

An diesen Abenden bete ich, dass ich nichts Wichtigeres vorhabe, wenn die Einladung zum Fest kommt, mit dem der Himmel beginnt; und dass mich die Armen und Kranken, die Abgehängten und Weggesperrten nicht schrecken, die die unerwarteten Ehrengäste dieses Festes sind. Und ich bitte, dass sich für uns die Bitte aus Bonhoeffers Lied erfüllt:

„Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet /, so lass uns hören jenen vollen Klang / der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, / all deiner Kinder hohen Lobgesang.“

Füreinander – über den Tod hinaus (Allerseelen, Morgenandacht im DLF am 2.11.2020)

Quelle: Katholische Hörfunkarbeit

Augenschein

Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt.
Sieh’ sie an, die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt,
Es wäre je Sommer gewesen.

Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt,
Es könnt je wieder Sommer werden.
Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,
Ist die sicherste Wahrheit auf Erden.

Es war der letzte Herbst des Schauspielers und Regisseurs Ernst Ginsberg, als er dieses Gedicht seiner Pflegerin 1964 diktierte. Er litt an einer unheilbaren Nervenkrankheit mit fortschreitender Lähmung. Von der geliebten Sprache hatte er schon Abschied genommen. Er diktierte in Morsezeichen mithilfe seiner Augenlider.

Der Herbst führt uns die Vergänglichkeit der Natur und unseres eigenen Lebens vor Augen. In dieser Zeit feiern katholische Christen zwei Feste, die mit unserer Beziehung zu den Toten zu tun haben: Gestern, am 1. November, das Fest Allerheiligen. Und heute, am 2. November, das Fest Allerseelen. Beide handeln davon, dass wir über den Tod hinaus füreinander da sein können.

Schon unter uns Lebenden gibt es ja eine Solidarität des Gedenkens oder des Gebetes. Sage ich zu jemandem: „Ich denke an Dich“, dann will ihm ja nicht mitteilen, was für ein netter Kerl ich bin, dass ich ihn nicht vergesse. Irgendwie drücken sich darin das Vertrauen und die Hoffnung aus, dass solches Gedenken an den anderen wirkt und gute Folgen hat. Solches Gedenken nennen die Christen Gebet. Es hat einen Adressaten. Es richtet sich an Gott.

Das Gebet für die Verstorbenen, an die wir denken, gehört zum christlichen Glauben dazu. Denn dieser Glaube sagt, dass Gott zu einem jeden von uns ein unsterbliches Ja sagt. Und etwas in uns entspricht diesem unsterblichen Ja. Dieses unsterbliche „Etwas“ ist die Seele des Menschen. Meine Seele ist zusammen mit den „Seelen aller“ zur unzerstörbaren Gemeinschaft mit Gott befähigt und gerufen.

Wenn es nun unter uns Lebenden Sinn macht, aneinander zu denken oder füreinander zu beten, warum sollte das nicht auch zwischen uns und den Verstorbenen gelten? Dieses Füreinander-da-Sein geschieht in zwei Richtungen. An Allerheiligen feiern wir, dass die bei Gott vollendeten Verstorbenen (eben „alle Heiligen“) an uns denken und für uns beten. An Allerseelen sind wir es, die an die Verstorbenen denken und darum bitten, dass sie ihren Weg vollenden und bereit sind, Gott zu schauen und bei ihm in seiner Freude zu sein.

Vor einiger Zeit sprach ich mit einem Studenten. Er lebt in Berlin. Seine Verlobte macht ein Praktikum in New York. Er erzählt mir, dass sie auf verschiedene Weise miteinander kommunizieren. Aber am berührendsten sei für ihn eine seltene nächtliche Verabredung. Wenn das Wetter und der Kalender es zulassen, verabreden sich die beiden, zur selben Zeit auf den Mond zu schauen. In Berlin am frühen Morgen, in New York zeitgleich 6 Stunden früher am späten Abend. „Es ist seltsam“, sagt er, „wir schauen miteinander auf Dasselbe, obwohl wir tausende Kilometer voneinander entfernt sind. Und theoretisch könnte man von dort uns beide sehen, die wir auf verschiedenen Kontinenten leben.“

Ich denke, so ähnlich können wir uns unsere Verbundenheit bei Gott über den Tod hinaus vorstellen. Wir empfinden eine Nähe und sind einander doch unerreichbar. Wir richten uns auf Gott aus, der mitunter fern scheint, und uns doch näher ist, als wir selbst es uns sind. Auf einen Gott, der uns sieht und im selben Augenblick unsere Lieben, die uns vorangegangen und schon gestorben sind.

Bei Ihm sind wir Lebenden mit den Verstorbenen wieder beisammen. Wir denken aneinander. Wir bitten füreinander. Und wir freuen uns aufeinander. Mitten im Herbst der Welt. Es wird wieder Sommer werden –

„und grad diese gläubige Narrheit, Kind / ist die sicherste Wahrheit auf Erden.“

Eine Woche Deutschlandfunk

Liebe Freunde,
von morgen früh an halte ich eine Woche lang täglich die Morgenandachten im Deutschlandfunk. Die können Sie entweder um 6:35 im Radio hören oder danach auch im Netz nachhören. Die Texte erscheinen jeweils auch als Blogbeitrag unter https://www.betdenkzettel.de.
Viel Freude und herzliche Grüße,
Fra’ Georg.

BetDenkzettel – Neuer Rhythmus und Umfrage

Liebe Denker und Beter,

seit dem 1. Januar 2019 erscheinen nun die BetDenkzettel. Erst handschriftlich, dann getippt. Erst nur per WhatsApp, dann auch als Podcast. Als kurz vor Ostern 2020 – offenbar aus Angst vor Fake News in der Pandemie – das WhatsApp Konto gesperrt wurde, sind wir parallel zum Podcast auf einen Blog umgestiegen.

Bisher sind die Denk- und Betanstöße nahezu täglich erschienen. Mittlerweile erfordern meine übrigen Aufgaben wieder mehr Zeit; zugleich soll jedoch der BetDenkzettel auch weiter verlässlich und gut durchdacht erscheinen.

Daher wird in Zukunft der BetDenkzettel immer sonntags sowie an Festen und Hochfesten und darüber hinaus je nach Anlass und Inspiration erscheinen. Dafür bitte ich um Verständnis.

Außerdem möchte ich Euch einladen, an einer Umfrage teilzunehmen, die helfen soll, das Angebot der BetDenkzettel zu verbessern. Die Umfrage ist anonym und die Bearbeitungszeit sind 3 Minuten. Zu der Umfrage geht es hier.

Zum Schluss noch einen Hinweis. Es gibt jetzt sowohl im Blog als auch in den Newslettern die Möglichkeit, mit einem Klick direkt per WhatsApp oder per Mail auf die Beiträge zu reagieren.

Fra’ Georg Lengerke